Buchenwald-Überlebender bei Bombenangriff gestorben

geschrieben von Hilfsnetzwerk NS-Verfolgte

21. März 2022

„Wir sind zutiefst erschüttert und betroffen vom Tod des NS-Überlebenden Boris Romantschenko, der laut der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora vergangenen Freitag Opfer eines Bombenangriffs auf sein Wohnhaus im ukrainischen Charkiw wurde. Der ehemalige Buchenwaldhäftling war Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos für die Ukraine (IKBD).

Romantschenko hat die KZs Buchenwald, Peenemünde, Dora und Bergen Belsen überlebt und ist nun im Rahmen des neuen Krieges in Europa getötet worden. Wir sind in Gedanken bei den Angehörigen. Als Vereinigung, die den Schwur von Buchenwald politisches Vermächtnis und als Handlungsanleitung betrachtet und die unter anderem von Buchenwald-Häftlingen gegründet wurde, stürzt uns diese Nachricht in tiefe Trauer. Es ist bitter, dass Boris Romantschenko den 77. Jahrestag der Selbstbefreiung von Buchenwald am 11. April nicht mehr erleben kann.

Mit jedem Tag, die dieser Krieg voranschreitet, wird weiteres Blut vergossen. Deshalb fordern wir: Die Waffen nieder! Der Krieg gegen die Ukraine muss sofort beendet werden! Die russischen Truppen müssen sich zurückziehen!“

Vor 90 Jahren traf Hitler die künftigen Wehrwirtschaftsführer im Düsseldorfer Industrieclub

geschrieben von Ulrich Sander

27. Januar 2022

(aus Neues Deutschland vom 26. 01. 22)

Die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945, aber auch die Reichspogromnacht am 9. November 1938 und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Hitlerdeutschland am 1. September 1939, mit dem die Nazis den systematischen Mord an den europäischen Juden eröffneten, sind heute hierzulande Jahrestage des Gedenkens an die Opfer. Der 20. Januar wiederum dient der Benennung der Täter, die vor nunmehr 80 Jahren in einer Villa am Berliner Wannsee die Details der »Endlösung der Judenfrage« berieten, wie es im zynischen NS-Jargon hieß. Wie aber steht es um den 26. Januar 1932? Wer weiß, was an jenem Tag in einem Düsseldorfer Hotel geschah? Gerade dieses Datum eignet sich dazu, Ursachen aufzuzeigen, vor Ungeist zu warnen, den es noch heute in der Bundesrepublik gibt.
Auch in der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens gibt es Stolpersteine, die an die Ermordeten erinnern. Weit weniger Tafeln befinden sich an Orten der Täter. Zeitweilig gab es eine solche auch am Gebäude des 1912 gegründeten und noch heute existierenden Industrie-Clubs, wo sich am genannten Januartag, ein Jahr vor der Übertragung der Macht in Deutschland an Adolf Hitler, Hunderte spätere Wehrwirtschaftsführer mit dem Führer der Nazipartei trafen. Sie wird immer wieder abmontiert. Düsseldorfs Antifaschisten geben jedoch nicht auf, befestigen dort immer wieder eine neue. Ein stetiger Kampf, der viel aussagt über gewollte Erinnerungslücken von Wirtschaft und Behörden.
Der seinerzeitige Präsident des Industrie-Clubs, einer exklusiven Vereinigung von Großindustriellen, war damals Jost Henkel, Boss von Persil. Er hat Hitler eingeladen. Die Unternehmensführer wollten Hitlers Programm kennenlernen. Hitler kam gerne und brachte Hermann Göring und den seinerzeitigen Chef der Terrortruppe SA, Ernst Röhm, mit. Dass sich die Wirtschaftsmagnaten mit Hitler treffen wollten, war zuvor bekannt geworden. Arbeiter, Gewerkschafter, Kommunisten und Sozialdemokraten zogen protestierend vor das Düsseldorfer Parkhotel, wo der Club anssäsig war (und ist). Unter ihnen war der vor einigen Jahren verstorbene Fritz Hollstein. Er erinnerte sich: »Als wir Jung-Gewerkschaftler davon erfuhren, waren wir entsetzt. Uns war bekannt, was Hitler in seinem Buch ›Mein Kampf‹ proklamiert hatte: Antisemitismus und Gewalt. Wir zogen also zum Industrie-Club, um die Unternehmer zu warnen. Auf dem Wege dorthin begegnete uns eine marschierende SA-Kolonne mit Hakenkreuz-Fahne, die sang: ›Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut!‹« Hollstein berichtete von beeindruckend vielen Demonstranten. »Vom benachbarten Arbeitsamt kamen eine Anzahl Arbeitslose hinzu. Die Polizei, teils zu Pferd, wurde gegen uns eingesetzt, weil wir warnend riefen: ›Hitler – das ist der Krieg!‹ Wir wurden verprügelt, manche in den Keller des benachbarten Opernhauses eingesperrt.«
Annähernd 650 Industrielle und Bankiers waren im Industrie-Club versammelt, um Hitler anzuhören. Der Oberbürgermeister von Düsseldorf, Dr. Robert Lehr, begrüßte ihn devot. Selbiger wurde nach dem Krieg in der Regierung von Konrad Adenauer Innenminister und war aktiv am Verbotsverfahren gegen die KPD und FDJ beteiligt. Hitler legte in einer Rede seine Konzeption vor. Er versprach, den Marxismus auszurotten, die Gewerkschaften zu zerschlagen, die Demokratie abzuschaffen: »Ich sehe zwei Prinzipien, die sich schroff gegenüberstehen: Das Prinzip der Demokratie, das überall, wo es sich praktisch auswirkt, das Prinzip der Zerstörung ist. Und das Prinzip der Autorität der Persönlichkeit, das ich als das Leistungsprinzip bezeichnen möchte.« Bedroht werde dieses Leistungsprinzip vor allem durch die Arbeiterbewegung. »Wenn wir nicht wären, gäbe es schon heute in Deutschland kein Bürgertum mehr«, biederte sich Hitler bei den Industriellen an. Er erklärte, die Reichswehr auszubauen, aufzurüsten und »Lebensraum im Osten« zu erobern. Die Armee gelte es zum Vorbild im »Machtstaat« zu machen, die Wirtschaft allein könne Deutschland nicht zum führenden europäischen Exporteur machen. Dazu bedürfe es des Militärs, um »unbedingte Autorität« durchzusetzen. Das »Führungsprinzip der Wirtschaft« sei in keiner politischen Organisation außer der NSDAP verwirklicht.
Gern hörten die Industriellen auch Hitlers Thesen vom deutschen »Herrenmenschen« an: »Die weiße Rasse kann (…) ihre Stellung nur dann praktisch aufrechterhalten, wenn die Verschiedenartigkeit der Lebensstandards in der Welt aufrecht erhalten bleibt.« Es sollte die Möglichkeit, billigste Rohstoffe zu erlangen, und sich an der Ausplünderung abhängig gehaltener Länder zu bereichern, gewährt werden – was in Zeiten der Globalisierung recht aktuell klingt. Industrielle und Bankiers dankten Hitler denn auch mit Beifall. Über die »sozialistischen« Phrasen der NSDAP sahen sie hinweg, die waren für die Massen, nicht für Eliten bestimmt. Die »Herrenmenschentheorie« Hitlers sagte den Konzernchefs zu. Heute werden deren Ambitionen vornehm mit »Werte des Westens« umschrieben. Es flossen nicht erst jetzt, aber nun noch reichlicher Spenden der Banker und Industriellen an die Nazipartei.
Unter den Arbeiterinnen und Arbeitern, die vor dem Industrie-Club protestierten, war auch die spätere Widerstandskämpferin und VVN-Aktivistin Maria Wachter. In ihren Vorträgen als Zeitzeugin vor der Jugend hatte sie immer wieder, bis zu ihrem Tode, gefordert ,dass am Sitz des Industrie-Clubs in Düsseldorf, im Parkhotel in der Elberfelder Straße, eine Tafel angebracht wird mit dem Text: »Hier bekam Hitler von Großindustriellen und Bankiers Beifall und Geld, hier wurden die Weichen zum Krieg gestellt!« Die Widerstandskämpferin Maria Wachter war in der Nazizeit fünf Jahre in einem Zuchthaus eingesperrt, Persil-Boss Henkel aber, der Persil-Boss, der Hitler zum Industrie-Club eingeladen hatte, wurde Wehrwirtschaftsführer.
Dem Vortrag Hitlers vor dem Industrie-Club folgten weitere Treffen mit den Wirtschaftsgewaltigen. Bereits am nächsten Tag, am 27. Januar, traf sich Hitler auf Schloss Landsberg, das dem Großindustriellen Fritz Thyssen gehörte, mit eben diesem und dem Großindustriellen Ernst Poensgen, Chef der Vereinigten Stahlwerke. Hier wurde konkret über die Finanzierung der Nazipartei gesprochen. Thyssen, schon lange Großspender für Hitlers Bewegung, hat die Finanzierung später in seinem Buch »I paid Hitler« (Ich bezahlte Hitler) geschildert.
Nach dem Januar 1932 überstürzten sich die Ereignisse, die Hitler den Weg an die Macht ebneten. Im Juli wurde die SPD-Regierung unter Otto Braun in Preußen gestürzt – unter Mitwirkung des gerade erste mit sozialdemokratischen Stimmen wiedergewählten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der mit einer Notverordnung die gesamte Polizeigewalt im Staate, also auch in Preußen, an Reichskanzler Franz von Papen übertrug. Dieser Putsch am 20. Juli 1932 vereitelte eine einheitliche demokratische und antifaschistischen Gegenwehr. Im November kam es dann zur sogenannten Industriellen-Eingabe an Hindenburg mit dem Ziel, dass dieser Hitler die Kanzlerschaft übertrage, was am 30. Januar 1933 erfolgte. Die weitere unheilvolle Entwicklung, der Mord an Hunderttausenden politischen Gegnern der Nazis, der Mord an sechs Millionen Juden und über 50 Millionen Weltkriegstote, dürfte bekannt sein.


Der Autor Ulrich Sander, Sprecher der Initiative der VVN-BdA »Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933-1945«, diskutiert heute ab 19 Uhr auf einer Onlineveranstaltung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist:innen über die Folgen des Düsseldorfer Treffens mit Maxi Schneider, Referentin für Geschichts- und Erinnerungspolitik der VVN-BdA; live auf Zoom, vvn-bda.de/wie-die-deutsche-wirtschaft-dem-faschismus-zur-macht-verhalf

Vor 80 Jahren: Die „Endlösung der Judenfrage“

geschrieben von Ulrich Schneider

21. Januar 2022

Wir erinnern an die „Wannsee-Konferenz“ vom 20. Januar 1942, das zentrale Datum in Vorbereitung der „Endlösung der Judenfrage“. Nachdem im Vernichtungskrieg im Osten und bei Versuchen mit Giftgas in den Konzentrationslagern bereits Erfahrungen gesammelt worden waren, ging es der faschistischen Administration bei diesem Treffen nur noch um die organisatorische Seite des Massenmordes.
Eingeladen vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich kamen fünfzehn Vertreter der Ministerialbürokratie, des „Reichssicherheitshauptamts“ (RSHA) der SS, der Sicherheitspolizei und des SD, die für die östlichen Besatzungsgebiete zuständig waren, zusammen, um die Deportation aller europäischen Juden zu besprechen. Allen Beteiligten war bewusst, dass diese Deportationen die Vernichtung der Menschen bedeuteten. Nicht nur in der Ideologie, sondern in der politischen Praxis hatte das NS-Regime zu diesem Zeitpunkt bewiesen, dass jüdische Menschen, Sinti und Roma oder Slawen als „Untermenschen“ und „Volksschädlinge“ im faschistischen Herrschaftsraum kein Lebensrecht mehr besaßen.
In dem von SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, „Judenreferent“ im RSHA, verfassten Besprechungsprotokoll heißt es: „Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Juden kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht. (…) Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa von Westen nach Osten durchkämmt. (…) Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in so genannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort weiter nach dem Osten transportiert zu werden.“
Alle Beteiligten waren sich sicher, dem „Willen des Führers“ entsprechend zu handeln. Adolf Hitler verkündete gleichzeitig „die endgültige Abrechnung mit jener Verschwörung, die von den Bankhäusern der plutokratischen Welt bis in die Gewölbe des Kremls“ reiche und die „Ausrottung der arischen Völker und Menschen“ anstrebe. So eingestimmt, verschickte Adolf Eichmann in den folgenden Tagen einen „Schnellbrief“ an die Gestapo: „Die in der letzten Zeit in einzelnen Gebieten durchgeführte Evakuierung von Juden nach dem Osten stellen den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark und im Protektorat Böhmen und Mähren dar.“ Die Gestapo wurde aufgefordert, alle noch im Reichsgebiet lebenden jüdischen Menschen zu melden. Bürokratisch wurden nun „Richtlinien zur technischen Durchführung der Evakuierung von Juden“ erstellt, so dass sich alle Mittäter an der Massenvernichtung – Stadtverwaltungen, Finanzämter und die Reichsbahn – dahinter verstecken konnten, man habe doch nur „Anweisungen“ befolgt. Wie sich die Angehörigen der „arischen Volksgemeinschaft“ jedoch an den Gütern der deportierten Menschen bereicherten, wurde nach dem Krieg in der deutschen Gesellschaft schnell verdrängt.

Der industrielle Massenmord in den Vernichtungslagern begann Mitte März 1942 im Rahmen der „Aktion Reinhard“. Im Mai 1942 war das Vernichtungslager Sobibor einsatzbereit, Anfang Juni Auschwitz-Birkenau, Mitte Juli 1942 die Mordstätte Treblinka und weitere Lager. Historisch gesichert muss man von weit über 6 Mio. Opfer der Vernichtungspolitik im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“ ausgehen.

Obwohl auf dieser Konferenz der millionenfache Massenmord geplant wurde, war die juristische Verfolgung der Täter nach der Befreiung ein Trauerspiel. Nachdem Reinhard Heydrich 1942 bei einem Attentat in Prag ums Leben kam, wurden nur wenige Beteiligte überhaupt angeklagt. In den Nürnberger Nachfolgeprozessen wurde der Vertreter des SS Rasse- und Siedlungshauptamtes 1948 zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, aber bereits 1954 entlassen. Wilhelm Stuckart aus dem Innenministerium wurde zu drei Jahren und zehn Monaten verurteilt, kam aber schon 1949 frei.
Nur im Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem wurde ein Verantwortlicher wegen der Schwere der Verbrechen zum Tode verurteilt und 1962 hingerichtet.
Die Erinnerung an dieses historische Datum ist für die VVN-BdA eine Verpflichtung zum aktiven Handeln gegen Rassismus und Antisemitismus auch heute.

Antifaschismus ist kein Spaziergang – Gegen die Mobilisierung der Verschwörungsideologen

geschrieben von VVN-BdA

16. Januar 2022

Die größte verschwörungsideologische Organisation in Deutschland hieß NSDAP. Im Namen der „deutschen Freiheit“ mobilisierte sie gegen eine „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“, die das deutsche Volk vergiften und knechten wolle. Das kann man alles nachlesen in einem der meistgedruckten Bücher deutscher Sprache – Adolf Hitlers „Mein Kampf“.

An dieses Vorbild knüpfen heute der „III. Weg“, die „Freien Sachsen“, die „AfD“ und weitere neofaschistisch geprägte oder beeinflusste Organisationen an. Ihnen ist es in diesen Wochen gelungen die von Anfang an wissenschaftsfeindliche, egoistische und nach Feindbildern gierende Szene der deutschen Impfgegner*innen in nie dagewesenem Ausmaß bundesweit in vielen Städten zu mobilisieren.

Längst geht es nicht mehr nur darum inmitten einer Pandemie in völliger Verkennung der Realität lebensrettende Maßnahmen des Infektionsschutzes zu hintertreiben, sondern gegen „das System“ an sich zu mobilisieren. Diese Bewegung ist

  • antidemokratisch, indem sie einen angeblichen „Volkswillen“ über demokratische Prozesse stellt
  • mindestens latent antisemitisch, indem sie erneut das altbekannte antisemitische Denkmuster von der Existenz einer angeblichen geheimen Elite mit ebensolch geheimen Pläne behauptet
  • sozialdarwinistisch – soll doch sterben, wer nicht gesund genug ist,
  • geschichtsrevisionistisch und eine Beleidigung der Opfer des NS-Regimes, indem sie sich selbst als „verfolgt wie die Juden“ gerieren
  • zunehmend verbal und körperlich gewaltbereit gegen Journalist*innen, Beamt*innen und sogar Ärzt*innen, die ohnehin schwer genug an der Pandemie zu kämpfen haben.

Es zeigt sich außerdem, dass sowohl Behörden und Polizei als auch etablierte Politiker*innen dem Druck der Straße zu weichen beginnen.

Stattdessen fordern wir:

  • Gesetzte Regeln für das öffentliche Leben, die Leib und Leben retten sollen, müssen auch durchgesetzt werden.
  • Infrastruktur und Personal des Gesundheitswesens als auch Journalist*innen sind zu schützen.
  • Mordaufrufe in Sozialen Medien sind genauso zu verfolgen wie in der realen Welt.
  • Tatsächliche soziale Verwerfungen, die durch die Pandemie verstärkt werden, gehören auf die Tagesordnung, u.a. die Unterfinanzierung des Gesundheitswesens.
  • Wir brauchen klare Kante gegen die Ideologien des Egoismus und der Verschwörungsmythen.

Halten wir dagegen!

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V. protestiert gegen die Zwangsauflösung von Memorial International

geschrieben von VVN-BdA

4. Januar 2022

Wir sind entsetzt über die Verfügung des russischen Obersten Gerichtshofs zur Zwangsauflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial und fordern die sofortige Rücknahme dieser Entscheidung.Unsere Vereinigung wurde 1947 von überlebenden Verfolgten und Widerstandskämpfer:innen gegen den Faschismus gegründet. Eine unserer wesenlichen Aufgaben ist die Erinnerung an Verfolgung und Widerstand. Dazu gehört auch das Schicksal  tausender deutscher Antifaschistinnen und Antifaschisten, die von sowjetischen Machtorganen in dem Land, in dem sie Schutz gesucht hatten, eingekerkert, gefoltert und oft auch ermordet wurden.Mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Schicksale konnte erst nach dem Zerfall der UdSSR und der Auflösung der mit ihr verbündeten Staaten ernsthaft begonnen werden. Die 1989 in Moskau gegründete Menschenrechtsorganisation Memorial International hat dabei mit ihrer sehr konkreten und akribischen Tätigkeit einen unschätzbaren Beitrag zur Anerkennung und Ehrung von in der Sowjetunion verfolgten deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten geleistet.

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V. würdigt auf vielfältige Weise die historische Leistung der UdSSR bei der Befreiung Europas vom deutschen Faschismus, der mehr als 25 Millionen Menschen aus allen Völkern der Sowjetunion das Leben gekostet hat, und wendet sich konsequent gegen jede Art der Relativierung oder Verfälschung dieses Beitrages.  Dies betrifft auch die offensive, durch Dokumente und Fakten belegte historische Aufarbeitung des Stalinschen Terrors. Jegliche Vertuschung oder Verharmlosung begünstigt die Propaganda von Verschwörungstheoretikern oder alten und neuen Nazis.

ver.di-Tagung „Solidarität ist unsere Alternative“

geschrieben von Axel Holz / Ulrich Schneider

14. Dezember 2021

Der Zentrale Arbeitskreis „Offensiv gegen Rassismus und Rechtsextremismus“ (ZAKO) setzt sich mit rechtsextremen und diskriminierenden Tendenzen in der Gesellschaft auseinander.

Der Arbeitskreis vernetzt sich mit vielen Organisationen und Initiativen. Er beteiligt sich an der aktuellen Extremismus-Debatte und setzt sich gezielt mit dem Thema „Rechtsextremismus und Gewerkschaft“ auseinander. Am 22.und 23. Oktober fand nach einer Corona-Verschiebung vom Vorjahr in der ver.di-Bildungsstätte in Berlin-Wannsee zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Tagung unter dem Motto „Solidarität ist unserer Alternative“ statt. Es ist kein Geheimnis, dass sich unter den Betiebs-und Personalräten auch AfD-Wähler befinden, die AfD sogar rechte Gewerkschaften wie AidA gegründet hat. Seit Jahren ist bekannt, dass nicht nur rassistische und diskriminierende Einstellungen zunehmen, sondern bei Umfragen unter  Gewerkschaftmitgliedern überdurchschnittlich vorkommen. Ver.di hat sich diesem Problem gestellt. Der Soziologe Klaus Dörre eröffnete die Diskussion mit einem Beitrag zu den ökonomischen Ursachen des Nationalismus und zum Aufstieg der Rechten in Deutschland. IG-Metall-Chef Hoffman hatte mit dem Aufruf „Wer hetzt, der fliegt“ klare Kante gegen rassistische Äußerungen in den Gewerkschaften gefordert. Darauf verließen Hunderte die Gewerkschaft. Juliane Krakayali plädierte für Gesprächsangebote, die aber nicht selten bei den Betroffenen auf taube Ohren stießen. Die Auseinandersetzung mit Rassismus müsse bereits auf institutioneller Ebene beginnen und sei eine zentrale Aufgabe der Gewerkschaften in der Migrationsgesellschaft, erläuterte die Mitarbeiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Erfahrungsaustausch zum Alltagsrassismus

Der intensive Austausch zwischen den Teilnehmenden fand in den Arbeitsgruppen am zweiten Konferenztag statt, wo betriebliche Erfahrungen und gewerkschaftliche Reaktionen thematisiert wurden. Unter dem Titel „Betriebliche Praxis gegen Alltagsrassismus und gegen extreme Rechte“ berichteten Kai Venohr von der DGB-Bildungsstätte Hattingen und Romin Khan von ver.di über rechtliche und politische Möglichkeiten, sich rassistischen und neofaschistischen Ansätzen im betrieblichen Alltag zu widersetzen. Venohr plädierte dafür, offensiver die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten (Allgemeines Gleichstellungsgesetz, BVerfG und Betriebsvereinbarungen) zu nutzen. Erschreckend ist, wie die extreme Rechte innerhalb und außerhalb der Betriebe zunehmend Gewerkschafter und die Organisationen selber angreifen. Das betrifft nicht nur das „Zentrum Automobil“, sondern alle Neonazigruppen. Aktuell führt der DGB ein Projekt „Vernetzen/ Aufklären/ Unterstützen“ (VAU) zur Unterstützung antirassistischer Arbeit in den Betrieben durch. Im Panel „Die Abwehr der Anderen – Ideologiekern der extremen Rechten und was das mit mir zu tun hat“ diskutierte Beate Küpper von der Hochschule Niederrhein Diskriminierungserfahrungen und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und wie sich dies in der betrieblichen Wirklichkeit bis hinein in die Funktionärskörper niederschlägt.

Gewerkschaftpolitische Bildung fokussieren

In der Arbeitsgruppe „Aufgaben für die gewerkschaftspolitische Bildung“ diskutierten der Autor und ver.di-Bildungsverantwortliche Andreas Michelbrink über Ansatzpunkte antifaschistischer und antirassistische Bildungsarbeit. Beispielhaft wurden dabei die über zwanzigjährigen Erfahrungen von ver.di-NRW mit Work-camps in der Gedenkstätte Buchenwald thematisiert. Wichtig sei es auch, die Erfahrungen gewerkschaftlicher Kämpfe, die teilweise erfolgreich zur sozialpolitischen Veränderung in diesem Land beigetragen haben, im gewerkschaftlichen Bewusstsein zu verankern, um Individualisierung und Ausgrenzungen entgegenzuwirken. Zu diesen Erfahrungen gehört auch das Wissen über diejenigen Frauen und Männer, die sich selbst unter den Bedingungen extremer Verfolgung für die Ideale der Gewerkschaft eingesetzt haben, erläuterte VVN-Bundesprecher Ulrich Schneider in seinem Beitrag. Andreas Michelbrink sah die Aufgabe gewerkschaftlicher Bildungsarbeit weniger in der „Erinnerungsarbeit“, sondern als Ermöglichung und Angebot für Debatten über Problemlagen vom Klimawandel bis zur Altersarmut, die an den Interessen heutiger Mitglieder anknüpfen.

Aufgaben in der Migrationsgesellschaft

Den Blick auf die Gewerkschaften selber richtete die Arbeitsgruppe „Aufgaben für die gewerkschaftliche Migrationspolitik“ mit Werner Schmidt. Hier ging es sehr praxisnah und handlungsorientiert um die Frage, welche Möglichkeiten die Gewerkschaften und ihre betrieblichen Funktionäre bei der Integration von Geflüchteten in Betrieben haben, wie dem strukturellen Rassismus zu begegnen sei und wie die Gewerkschaft in ihren eigenen Strukturen erkennbar antirassistische Strategien praktiziert. Zwar wurden in den Diskussionen mehrfach Bezug genommen auf gesellschaftliche antirassistische Netzwerke wie #unteilbar und „Aufstehen gegen Rassismus“. Im Fokus der Überlegungen stand jedoch die gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die zur Sensibilisierung und demokratischen politischen Bildung genutzt werden müsse, um Gegenkräfte zu verstärken, wie es in der Abschlussrunde mit ver.di-Vorsitzenden Frank Werneke präsentiert wurde. Ein emotionaler Höhepunkt der Konferenz war das kulturelle Abendprogramm, das von Mikrofone Mafia und Joram Bejarano sowie der Weltmusik-Gruppe Klangbande aus Berlin gestaltet wurde.

Situation Geflüchteter an der polnisch-belarussischen Grenze

geschrieben von VVN-BdA

11. November 2021

Wir fordern ein Ende der menschenunwürdigen Behandlung von Flüchtenden an der polnisch-belarussischen Grenze durch eine schnelle Versorgung der ankommenden Menschen und ihre Aufnahme durch Polen, Deutschland und die EU, die mit ihrer Politik Fluchtursachen nicht bekämpfen, sondern Teil des Problems sind. Wer sich auf Werte wie Aufklärung und Humanismus beruft hat nur eine Wahl: Schluss mit der Abschottung Europas, mit dem europäischen Grenzregime Frontex und den Pushbacks von Menschen an die Orte, von denen sie geflohen sind!

Novemberpogrome 1938 – wir vergessen nicht!

geschrieben von Ulrich Schneier

5. November 2021

Zwar ist dieses Jahr kein „rundes“ Jubiläum. Dennoch erinnert die FIR mit diesem Newsletter an die antisemitischen Pogrome vom November 1938 im Deutschen Reich und Österreich, das seit März 1938 Teil des „Großdeutschen Reiches“ geworden war.
Den Anlass für diese Ausschreitungen hatten die deutschen Faschisten mit der Zwangsdeportation von über 17.000 jüdischen Menschen nach Polen selber geschaffen. Das Attentat auf den deutschen Botschaftsmitarbeiter von Rath in Paris war nur der gewünschte Vorwand für eine neue Eskalationsstufe der antisemitischen Ausgrenzung und Entrechtung jüdischer Menschen im Deutschen Reich.
Der Ablauf der Ereignisse, die in der Nazipropaganda als „Kristallnacht“ bezeichnet wurden, ist bekannt. Die grausame Bilanz: In diesen Tagen wurden 400 jüdische Menschen ermordet oder in den Tod getrieben. Über 1.400 Synagogen und weitere Räume der jüdischen Gemeinden wurden zerstört, zusätzlich mehrere tausend Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe.
Schon In der Nacht vom 9./10. November und in den folgenden Tagen verhafteten Polizei und Hilfspolizei 30.000 jüdische Menschen nach vorgegebenen Listen. Sie wurden in die KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Aus Österreich wurden 4.600 Juden ins KZ Dachau deportiert.
Ein zentraler Aspekt der Novemberpogrome war die forcierte „Arisierung“, der Raub jüdischen Eigentums im Interesse des faschistischen Staates. Es ging um Barvermögen, Versicherungen, aber auch Unternehmensanteile und Immobilien. Zusammen mit einer so genannten „Reichsfluchtsteuer“ bei Auswanderung fielen in diesen Wochen über 2 Milliarden RM an das Deutsche Reich – gestohlen aus jüdischem Besitz. „Arisierungsgewinne“ von Einzelpersonen oder Parteistellen waren darin noch nicht einmal enthalten.
In den Tagen nach den Novemberpogromen wurden zahlreiche Sondergesetzen erlassen, die nur ein Ziel hatten, jüdischen Menschen im Deutschen Reich ein normales Alltagsleben unmöglich zu machen. Jüdische Kinder wurden vom Besuch deutscher Schulen ausgeschlossen. In Berlin wurde ein „Judenbann“ verhängt, d.h. ein Betretungsverbot für Theater, Kinos, öffentliche Konzert- und Vortragsräume, Museen, Ausstellungshallen am Messedamm einschl. Ausstellungsgelände und Funkturm, die Deutschlandhalle und den Sportpalast, sämtliche Sportplätze, öffentliche und private Badeanstalten und Hallenbäder, einschließlich Freibäder und selbst für die Wilhelmstraße von der Leipziger Straße bis Unter den Linden. Ähnliches galt in vielen deutschen Städten.
Kurios erscheint das Verbot, Brieftauben zu halten. Folgenreicher waren dagegen der Entzug von Führerscheinen und die ungültig Erklärung von Kraftfahrzeugzulassungspapieren für jüdische Menschen.
Gegen all diese Verfolgungsmaßnahmen und gesetzlich fixierten Ausgrenzungen gab es im öffentlichen Raum keinen Widerspruch. In Gestapoberichten wurden keine Proteste registriert. Die faschistische Propaganda war offenkundig bereits so weit wirksam, dass mehr Gaffer und Schaulustigen das Feld besetzten, weniger die Skeptiker oder gar Nazigegner.
Allein im politischen Widerstand, der in diesen Jahren durch die massive Verfolgung des NS-Regimes auf kleinere konspirative Gruppen reduziert war, wurde dieser Terror offen kritisiert. Ein wichtiges Dokument dieses Widerstandes ist die Erklärung der Inlandsleitung der KPD vom November 1938 „Wider die Schmach der Judenpogrome“. Fast schon visionär hieß es: „Die Befreiung Deutschlands von der Schande der Judenpogrome wird zusammenfallen mit der Stunde der Befreiung des deutschen Volkes von der braunen Tyrannei.“ Veröffentlicht wurde das Dokument in der „Roten Fahne“, die als illegale Flugschrift in Berlin, im Rheinland, im Ruhrgebiet und in anderen Teilen des Deutschen Reiches verbreitet wurde.

Ehrenbürgerschaft für Antifaschisten in Güstrow

geschrieben von Wilfried Schubert, VVN-BdA Basisgruppe Güstrow

5. November 2021

Allen ein kräftiges Dankeschön, die mitgewirkt haben, die Aberkennung der Ehrenbürgerschaften von Bernhard Quandt, Klaus Sorgenicht  und Johannes Warnke erfolgreich zu verhindern. Unsere zweieinhalb Jahre Beharrlichkeit haben sich ausgezahlt.

Anfang Mai 2019 regte Güstrows Bürgermeister, Herr Arne Schuldt, die Bürger am „Gedenkstein für die Opfer stalinistischer Willkür“ an, „darüber nachzudenken, ob Klaus Sorgenicht, Bernhard Quandt und Johannes Warnke, weiter Ehrenbürger der Stadt bleiben sollten.„ Innerhalb kurzer Zeit, votierten mehr als 600 Bürger für die Beibehaltung der Ehrenbürgerschaften.

Am 18. 11. 2019 stellte der Güstrower, Herr Ulrich Schirow, den Antrag, den drei Antifaschisten und Protagonisten des Neuanfangs, die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen.

Am 12. 03. 2020 beschloss der Hauptausschuss, der Stadtvertretung die Aberkennung der Ehrenbürgerschaften von Johannes Warnke, Bernhard Quandt und Klaus Sorgenicht vorzuschlagen. Der Bürgermeister wurde beauftragt, das Vorhaben öffentlich bekannt zu machen und Meinungsäußerungen entgegen zu nehmen.

Bedingt durch die Corona Pandemie, stellten wir die weitere Gewinnung von Unterschriften ein. Dem Bürgermeister wurden die Listen mit 734 Unterschriften für die Beibehaltung der Ehrenbürgerschaften übergeben. Dieser teilte am 08. 09. 2020 mit: „Die bereits eingegangenen Unterschriftlisten der VVN-BdA Basisorganisation Güstrow … werden im laufenden Verfahren dokumentiert und der Stadtvertretung zur Entscheidung mit vorgelegt.“ In der abschließenden Wertung der Stadtverwaltung fanden sie jedoch keine Berücksichtigung (Mitteilung der Stadtverwaltung vom 22. 10. 2021).

Am 17. 06. 2021 beschloss die Stadtvertretung eine neue Satzung „Zur Verleihung und Beendigung des Ehrenbürgerrechts“. Danach können nur lebende Persönlichkeiten Ehrenbürger werden. Die bisherigen 18 Güstrower Ehrenbürger verbleiben als ehemalige Ehrenbürger im Archiv verzeichnet.

Im Bericht des Bürgermeisters vom 28. 10. 2021 an die Stadtvertretung heißt es in Bezug auf die Ehrenbürgerschaften von Bernhard Quandt, Klaus Sorgenicht und Johannes Warnke:„ Das Aberkennungsverfahren wurde damit hinfällig.“

Unseren Antrag auf Zugang zu den Resultaten der öffentlichen Diskussion unterstützten der Bürgerbeauftragte des Landes  M-V und der Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit M-V. Am 07. 10. 2021 konnten wir die Ergebnisse einsehen.

Berichte sendete das Nordmagazin am 26.11.20 und 18.06.2021 über die Ehrenbürger sowie die Dorfgeschichte über Bredentin am 14. 06. 2021.

Güstrow, den 04. November 2021

Antisemitismus in der Sprache

geschrieben von Axel Holz

6. Oktober 2021

Das Buch „Antisemitismus in der Sprache“ ist nur 64 Seiten lang, aber der Text hat es in sich. Dass Antisemitismus in Deutschland und weltweit ein Problem ist, ist bekannt. Antisemitische Übergriffe hatten in den vergangenen Jahren wieder zugenommen. Sie werden im rechten, linken und im islamistischen Milieu verortet. Der Antisemitismus in der Sprache betrifft aber alle politischen, sozialen und Altersgruppen mehr oder weniger bewusst. Das hat damit zu tun, dass die Tradition der jiddischen Sprache von ehemals fast 10 Millionen jiddisch Sprechenden in Europa die deutsche Sprache über Jahrhunderte mitgeprägt hat. Mitunter vergessen wir, dass es mit 1.700 Jahren in unserem Raum länger jüdische Kultur gibt als christliches Leben. Da ist es auch nicht ungewöhnlich, dass einige jiddische Worte fast unbewusst im Deutschen gebraucht werden. Häufig empfinden wir sie als angenehm und charmant. Dazu gehört beispielsweise das Lehnwort Tacheles, also Klartext reden. Oder das Schmusen, das nur im Deutschen die Bedeutung von Liebkosen hat, in New York aber mehr im Sinne von schwätzen gebraucht wird und dem eigentlichen Sinn im Jiddischen als unterhalten oder plaudern näher kommt. Ähnlich geht es uns mit dem jiddischen Wort Chuzpe, das Dreistigkeit bedeutet, oder mit dem Schlamassel, der das Unglück, den das jiddische Wort meint, nicht ganz so schlimm erscheinen lässt. In diesem Sinne können und sollten wir jiddische Traditionen in unserer Sprache bewusst fortführen, weil sie unsere Sprache spürbar bereichern, meint der Buchautor, Journalist und Jurist Ronen Steinke.

Antisemitische Bedeutungsänderung

Anders sieht es mit jiddischen Worten in unserer Sprache aus, die während ihres langjährigen Gebrauchs eine antisemitische Umdeutung erfahren haben, die dem ursprünglichen Gebrauch wiederspricht und eine abwertende Bedeutung erhalten hat. So hatte die selbst von einem migrationsfeindlichen Attentat betroffene Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker Demonstranten gegen Corona-Maßnahmen als „verschwörungstheoretische und rechtsextreme Mischpoke“ bezeichnet. Das Wort Mischpoke bedeutet im Jiddischen einfach Familie, bekommt aber eingedeutscht den düsteren, anrüchigen Klang einer verschworenen Gemeinschaft. Dieser Bedeutungswechsel ist nur dadurch zu erklären, dass ein gewisses Bild von Jüdinnen und Juden auf das Wort im deutschen Gebrauch abgefärbt hat mit einer antisemitischen, diskriminierenden Bedeutung. Ähnlich ist es mit zahlreichen Lehnwörtern aus dem Jiddischen. So ist das „Geschachere um Ministerposten“ ein solches eindeutig antisemitisch eingefärbtes jiddisches Wort. Es bedeutet im Jiddischen einfach Handel. Die deutsche Sprache macht daraus „Handeln wie ein Jude“ und meint die Stigmatisierung von Juden als angeblich unlautere, unsaubere, profitsüchtige Händler mit oder in einer Sache. Auch dieses Wort  sollte man nicht verwenden, um nicht das damit verbundene antisemitische Bild zu nähern. Ein weiteres Beispiel in dieser Reihe ist das Wort mauscheln. Wir kennen es als Mauschelei im Gemeinderat oder bei der Bankenfusion. Hier geht es irgendwie um korrupte Dinge, die hinter vorgehaltener Hand besprochen werden. Das Wort stammt vom jüdischen Vornamen Moses, hebräisch Mosche und in der jiddischen Form als Mauschel ab. Abgeleitet von einem Spottnamen für jüdische Händler wird es als Synonym für alle Juden eingesetzt, ähnlich wie Ali in rassistischer Absicht für Türken gebraucht wird. Ebenso ist es mit der Ische, dem jiddischen Wort für Mädchen oder Braut. Niemand möchte eine Ische sein. Auch wenn Berliner gern mal in der Kneipe von ihrer Ische im Sinne von Braut sprechen. Es bleibt ein Ausdruck, den man dem Betroffenen möglichst nicht ins Gesicht sagt. Er transportiert ein Bild, dass Nichtjuden ursprünglich von einer jiddisch sprechenden Frau vor sich hatten: nichts Gutes.

Spezifische Ausrichtung der Diskriminierung

Die Abwertung von jüdischen Menschen ist Teil des kulturellen Vokabulars, erklärt der Autor Ronen Steinke. Sie unterscheidet sich vom Rassismus eben dadurch, dass hierbei nicht auf Schwächere nach unten getreten wird, sondern auf die da oben, eine angeblich machthungrige Elite, geschimpft wird. Auch hier wirkt Corona nur wie ein Verstärker auf bereits vorhandene antisemitische Anfeindungen mit dem „Weltjudentum“ als angeblichem Ursprung allen Übels. Minderheiten für Katastrophen verantwortlich zu machen ist nichts Neues in der Geschichte. Gerade weil der Großteil der Juden eher arm war, musste ein nicht sichtbarer Vorwurf herhalten. Deshalb nützt es auch wenig, auf den eigentlichen Ursprung bestimmter jiddischer Worte nur zu verweisen, sondern erscheint es sinnvoller, den Gebrauch antisemitisch aufgeladener jiddischer Worte bewusst zu vermeiden.

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