geschrieben von Axel Holz

5. Februar 2025

KZ überlebt

Zehn Jahre lang nahm Stefan Hanke Kontakt zu KZ-Überlebenden auf. Er wollte ihre Geschichte hören und mit einem persönlichen Porträt weitergeben. Zahlreiche KZ-Insassen hatten den Mord an Millionen KZ-Opfern überlebt, aber ihr Leidensweg war nicht zu Ende.  Viele schwiegen über ihr Schicksal oft ein Leben lang oder sprachen darüber erst im hohen Alter. Hankes Projekt war ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Überlebenden aus sieben Ländern waren mittlerweile zwischen 70 und 105 Jahre alt. Sie waren jüdischer Herkunft, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Kriegsgefangene, ehemalige politische Häftlinge oder als „Asoziale“ diskriminierte Häftlinge. Das Interview mit einem homosexuellen Opfer kam nicht mehr zustande, weil der betreffende KZ-Überlebende zum Fototermin bereits verstorben war. Mittlerweile sind zahlreiche Interviewpartner von Stefan Hanke nicht mehr am Leben. Der Autor hat ihnen einen Denkmal gesetzt – und damit stellvertretend allen NS-Opfern.

Stefan Hanke wollte seine Interviewpartner mit Empathie und Neugier ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Er hatte dafür akribisch Fachliteratur über die Konzentrationslager gewälzt und sich gut vorbereitet, bei Aufnahmen in den Gedenkstätten umfassende Informationen über die Örtlichkeiten eingeholt und versucht, deren Bezug zu den Überlebenden herzustellen. Er wollte keinen Opferschablonen für sein Vorhaben folgen, sondern die KZ-Überlebenden selbst unbefangen erleben und aus dieser Situation heraus fotografieren. Den Überlebenden sollte eine Atmosphäre geboten werden, ihre Geschichte zu erzählen und nicht zu erklären.

Er erlebte KZ-Überlebende oft stundenlang, manchmal tonlos, manchmal lachend, manchmal weinend, mit geschlossenen Augen, aber auch singend. Etwa Barbara Pankowsky, die in der Gedenkstätte Auschwitz das Volkslied Kalinka anstimmte, das sie erstmals hörte, als sowjetische Soldaten sie befreiten. Shlomo Graber hatte 32 Familienmitglieder verloren, die die Nazis ermordet hatten. Er selbst überlebte den Todesmarsch nur knapp. Bei der Geburt seines ersten Kindes lachte er. Dies sei seine Rache an Hitler, erzählte Graber im Interview mit dem Fotografen.

Die Zeitzeugen konnten sich den Ort ihres Fotos selbst aussuchen. Pavel Stransky hatte seine Frau mit einem im Lager geschmiedeten Eisenring im KZ geheiratet und damit seinen Überlebenswillen gestärkt. Er wählte den Gerichtssaal 600 des Nürnberger Gerichtspalastes als Kulisse für sein Foto, dem Ort, am dem zahlreiche NS-Täter verurteilt worden waren. Die Polin Wieslana Borsysiewicz blickte immer noch ängstlich aus dem Fenster der Baracke 16a des Frauenlagers in Auschwitz. Hier hatte sie ihre dunkelsten Stunden erlebt und durfte seinerzeit unter Strafandrohung nicht aus dem Fenster schauen. Andere wollten sich nicht an den Orten fotografieren lassen, die sie zu sehr an ihr Leid erinnerten.

Hanke wollte empathisch sein, hörte zu und versuchte, seine Emotionen nicht in den Vordergrund zu stellen. Das gelang ihm nicht immer. 2011 zeigt ihm eine Überlebende das Foto ihrer ermordeten Schwester, die mit lustigen Zöpfen zuversichtlich zur Schule schritt. Es erinnerte Hanke an ein ähnliches Foto seiner Tochter. Plötzlich sei das Grauen sehr greifbar und der Terror präsent gewesen, erinnerte sich Hanke.

Hankes Bildband erzählt Geschichten von KZ-Überlebenden. Darunter die von Esther Bejerano in den Lagern Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück. Ihr Vater war Oberkantor einer jüdischen Gemeinde, so dass Musik ihr Leben stark beeinflusste. In Auschwitz überlebte sie im Mädchen-Orchester, wo sie sich das Akkordeonspiel selbst beigebracht hatte. Musik begleitete sie ein Leben lang, zuletzt bei zahlreichen Lesungen und Auftritten mit der Rap-Gruppe Microphone Mafia. Esther Bejerano war Ehrenvorsitzende der VVN-BdA, engagierte sich politisch als Antifaschistin, als Zeitzeugin und im Auschwitz-Komitee.

Ernst Grube stand auf dem Porträtfoto des Bildbandes am Güterbahnhof Milbertshofen, von dem aus viele Münchner Juden in KZs deportiert wurden. Der Sohn einer jüdischen Mutter erfuhr in der NS-Zeit schon bald Diskriminierungund Verfolgung. Im Februar 1945 wurde er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Auschwitz deportiert. Alle erlebten ihre Befreiung, aber die Geschwister der Mutter waren zusammen mit deren Ehemännern und Kindern ermordet worden. Ernst Grube hat sich in der KPD, der VVN-BdA und in der Gewerkschaft im Sinne der von den Nazis verfolgten Menschen eingesetzt und war dabei in der Bundesrepublik neuen Verfolgungen ausgesetzt.

Hugo Höllenreiner erinnerte sich an den SS-Arzt Josef Mengele, der durch seine Verbrechen zum „Todesengel von Auschwitz“ wurde. Der 1933 in einer Sinti-Familie Geborene wurde von der Rassenhygienischen Forschungsstelle der Nazis als „Zigeunermischling“ abgewertet. Er überlebte die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen. Westdeutsche Gerichte erkannten die rassistischen Bewegründe seiner Verfolgung nicht an. Sie stützten sich auf diskriminierende Polizeiakten, die für die Verfolgung der Sinti und Roma unter den Nazis verantwortlich waren.

Regensburgs Oberbürgermeister  Joachim Wolberg bezeichnete Hankes Porträts als ein gelungenes Beispiel für den Kampf gegen das Vergessen und gleichzeitig als Mahnung an uns alle, an unsere Menschlichkeit. Hankes Recherchen zu seinem Bildband füllen mehrere Schränke aus. Darin ist mittlerweile auch ein neuer Ordner über Absagen von Veranstaltern zu seinem Ausstellungsangebot über KZ-Überlebende. Die Absagen kommen überwiegend aus Deutschland.

Kein Gedenken gemeinsam mit der AfD am 27. Januar!

26. Januar 2025

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der
Antifaschistinnen und Antifaschisten ist entsetzt, dass auch in diesem
Jahr die aktive Teilnahme von AfD-Mitgliedern zu verschiedenen
Veranstaltungen am 27. Januar, dem Internationalen Tag des Gedenkens an
die Opfer des Holocaust, vorgesehen sind. Wir sehen in der Teilnahem von
AfD Vertretern, wie beispielsweise in Coswig (Sachsen), eine Verhöhnung
der Opfer des NS-Regimes. Der italienische Holocaust-Überlebende Primo
Levi erklärte 1974 mahnend: „Jede Zeit hat ihren eigenen Faschismus“.
Für uns ist die AfD eine im Kern faschistische Partei, das heutige
Gesicht des Faschismus in der Bundesrepublik. Die Ermittlungen zu der
terroristischen Vereinigung „Sächsische Separatisten“ wie auch zur
„Gruppe Reuß“ zeigen, dass es auch personelle Verbindungen der AfD in
dieses Milieu gibt.

Wir appellieren deshalb an alle Bundestagsabgeordneten der
demokratischen Parteien, dem Gruppenantrag auf Einleitung eines
Prüfverfahrens auf Verfassungswidrigkeit zuzustimmen. Wir mahnen, dass
das Schüren rassistischer Ressentiments durch andere Parteien letztlich
zur weiteren Stärkung der AfD führen wird. Die Demonstrationen an diesem
Wochenende haben gezeigt, dass weite Teile der Bevölkerung die Politik
der AfD ablehnen, da sie in der AfD eine Gefahr für die Demokratie und
ihre körperliche Unversehrtheit sehen. Die demokratischen Parteien sind
gefordert endlich eine Politik zu betrieben, die die AfD nicht hofiert,
sondern in die Schranken weist.

Todesmärsche – faschistische Verbrechen vor der Befreiung

geschrieben von Ulrich Schneider

10. Januar 2025

Mit Beginn der Weichsel-Offensive der sowjetischen Streitkräfte am 12. Januar 1945 wurde in großer Hektik im Osten damit begonnen, die dortigen Arbeits- und Vernichtungslager des faschistischen Deutschlands zu räumen. Waren beim Heranrücken der Roten Armee auf die Vernichtungslager Majdanek und Sobibor noch die verbliebenen Häftlinge als potentielle Zeugen der Massenmorde getötet worden, so galt zum Ende 1944 der Befehl aus Berlin, dass kein arbeitsfähiger Häftling den alliierten Streitkräften in die Hände fallen dürfe. Trotz der Agonie des Regimes und der erkennbaren militärischen Niederlage sollte die Arbeitskraft der Häftlinge bis zum bitteren Ende im Interesse der faschistischen Kriegsproduktion ausgeplündert werden.
Während die regulären Transporte seit Sommer 1944 zu den Arbeitseinsatzstellen von Auschwitz, bei denen rund 65.000 Häftlinge in das Deutsche Reich deportiert wurden, noch relativ geordnet vonstatten gingen, erwies sich die überstürzte Räumung des Lagers Auschwitz im Januar 1945 als Tortur für die Häftlinge. Tatsächlich befanden sich Mitte Januar noch knapp 70.000 Häftlinge in den drei Lagerbereichen von Auschwitz und in den Außenkommandos. Die eingleisige Bahnverbindung, die für die Massentransporte zur Vernichtung in Auschwitz genutzt worden war, reichte für eine Deportation ins Reich nicht mehr aus, zudem wurden Lokomotiven und Waggons für die Logistik der Reichswehr benötigt.  
Die brutale Konsequenz war, dass über 50.000 marschfähige Häftlinge in Gruppen von 1.000 bis 2.500 Menschen zu Fuß auf eine Strecke von 50 bis 60 Kilometer nach Gleiwitz bzw. andere Eisenbahnstationen getrieben wurden. Da die Häftlinge entkräftet waren, dauerte der Marsch mehrere Tage. Von dort wurden sie bei Minustemperaturen in Güterwaggons in Lager im Deutschen Reich, z.B. in das KZ Buchenwald, deportiert. Auch diese Transporte dauerten mehrere Tage, an denen die Häftlinge weder Verpflegung noch Wasser zum Trinken von den SS-Wachen bekamen. Bei der Ankunft in den neuen Lagern mussten aus den Transportzügen zumeist viele Leichen geholt werden. Allein bei den Todesmärschen von Auschwitz ins Deutsche Reich starben nach unterschiedlichen Berechnungen zwischen 9.000 und 15.000 Häftlinge – ermordet durch die SS-Wachmannschaften oder gestorben unter den Transportbedingungen.  
Etwas geordneter verliefen die Deportationen aus dem Westen. Als die US-Truppen am 25. November 1944 das KZ Natzweiler im Elsass erreichten, fanden sie das Lager leer vor. Schon im September 1944 war ein Großteil der Häftlinge in das KZ Dachau deportiert worden. Im Oktober wurde die Verwaltung in das KZ Außenlager Neckarelz verlegt. Vor dem Eintreffen der alliierten Streitkräfte wurden die verbliebenen Häftlinge in andere Außenlager verbracht.
Mit dem weiteren Vormarsch der alliierten Streitkräfte wurden in allen Teilen des Deutschen Reiches KZ-Außenlager aufgelöst und Häftlinge auf Transport in Lager in noch nicht besetzten Teilen des Reiches geschickt. Dabei waren diese Transporte natürlich auch für die Zivilbevölkerung sichtbar. Bezeichnend für die Haltung der deutschen „Volksgemeinschaft“ war , dass diese Todesmärsche, insbesondere wenn sie zu Fuß erfolgten, vor allem als Zumutung empfunden wurden. Vielleicht verstärkten die Eindrücke auch die Angst davor, was passieren würde, wenn die Alliierten den Krieg gewinnen, da man ja selber mittelbar beteiligt war an den faschistischen Massenverbrechen. Durchhalte-Parolen der Nazis führten dazu, dass sogar Wachmannschaften aktiv unterstützt wurden beim Weitertransport der Häftlinge oder beim Verscharren der Leichen der Transporte. Beteiligt waren nicht nur Funktionsträger, Polizisten, lokale Nazi-Funktionäre oder Mitglieder von „Volkssturm“ und  „Hitler-Jugend“. Die Akteure kamen aus allen Schichten und Altersgruppen. Es gab nur wenige Beispiele, dass Menschen den KZ-Häftlinge bei diesen Transporten geholfen hätten.

Staatsversagen

geschrieben von Axel Holz

4. Dezember 2024

Staatsversagen – so heißt der letzte Teil der sechsteiligen ARD-Dokumentation „Warum verbrannte Ouri Jallow“. Kaum jemand hat die Story über den Asylbewerber Oury Yalloh geglaubt , der sich gefesselt auf einer feuerfesten Matratze in einer Dessauer Polizeistation am 7. Januar 2005 angeblich selbst mit einem Feuerzeug entzündet und verbrannt hatte. Der Zweifel daran wurde auch durch Filme wie „Tod in der Zelle“ von Pagonis Pagonakis 2006, die Dokumentation „Oury Jalloh“ von Simon Jaikiriuma Paetau 2008 und 2015 mit dem Tatort „Verbrannt“ in der Regie von Thomas Stuber genährt. Die ARD-Dokumentation präsentiert nun neue, unglaubliche Erkenntnisse und wirft grundsätzliche Fragen auf – in Dessau und darüber hinaus.

Der Bürgerkriegsflüchtling Oury Yalloh floh aus seiner Heimat in Burkina Faso zunächst ins Nachbarland Guinea zu seinen Eltern und dann weiter nach Deutschland. Nach einem abgelehnten Asylantrag lebte er als geduldeter Ausländer in Deutschland und hatte mit seiner deutschen Lebensgefährtin ein Kind, das die Mutter nach der Geburt zur Adoption frei gab. Oury Yalloh war wegen gewerbsmäßigen Drogenhandels verurteilt wordn, aber das Urteil war noch nicht  rechtskräftig. Auch wegen des Verlustes seines Kindes hatte er sich betrunken und nachts Frauen eines Reinigungstrupps um ein Telefon gebeten, weil sein Guthaben verbraucht war. Die riefen die Polizei, die aus der Belästigung sofort eine schwere Belästigung machten und Oury Yalloh brutal gegen bestehende Polizeirichtlinien in die Dessauer Polizeidienststelle brachten, durchsuchten, ärztlich untersuchen ließen, in eine feuersichere Isolierzelle sperrten und fixierten – angeblich um Selbstverletzungen zu verhindern. Bei der Durchsuchung wurde, amtlich dokumentiert, auch kein Feuerzeug gefunden. Stunden später wurde Oury Yalloh fixiert und verbrannt in seiner Zelle gefunden.

Was nun in 19 Jahren folgte ist wohl einer der größten deutschen Justizskandale der Nachkriegsgeschichte, denn bis heute ist kein Täter belangt worden. In einem ersten Prozess in Dessau wurden die angeklagten Polizisten 2008 freigesprochen. Der Richter hatte erhebliche Zweifel an der polizeilichen Darstellung, die die Aufklärung unmöglich gemacht hätten. Die Beamten, die das Gericht belogen hätten, hätten auf einer Polizeistation nichts zu suchen, so der Richter. Eine Bewertung ohne Folgen. Nach einer Klage vor dem Bundeverfassungsgericht wurde das Urteil revidiert, der Fall der Staatsanwaltschaft Dessau-Roslau entzogen und 2011 vor dem Landgericht Magdeburg neu verhandelt. Am Ende wurde der stellvertretende Dienstgruppenleiter der Polizeistation Dessau wegen Fahrlässigkeit mit Todesfolge zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Er hatte den Feueralarm aus der Zelle zweimal ausgestellt und damit frühzeitige Rettungsmaßnahmen verhindert. Eine erneute Klage der Angehörigen vor dem Bundesverfassungsgericht wurde abgewiesen. Die Familie legte Ende 2022 Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.

Afrikanische Community klärt auf

Was Aufgabe des Staates bei einem Todesfall in Polizeigewahrsam sein sollte, leistete die afrikanische Community in Dessau. Sie organisierte neben Öffentlichkeit auch eine zweite Autopsie, die vielfache Gewalteinwirkungen beim Opfer und einen Adrenalingehalt feststellte, der den Tod des Opfers zeitlich vor dessen Verbrennung einstufte. Erst dann wurde das angeblich gefundene Feuerzeug mit Brandschutt aus einer polizeilichen Brandtüte untersucht, das nicht zum Tatort passte und offensichtlich später als Aservat beigefügt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte die zweite Obduktion ebenso abgelehnt wie ein Brandgutachten, das die Angehörigen in Irland beauftragten. Es stellte fest, dass die Entzündung des Opfers in der Zelle nur mit Brandbeschleuniger durch Dritte möglich war.

Staatsinstitutionen versagen

Richter und Staatsanwälte haben sich von aussageunwilligen Polizisten täuschen lassen, hatten wichtige Untersuchungen verhindert und damit die Aufklärung eines wahrscheinlichen Mordes behindert. An der Verschleierung der Tat durch ein gefälschtes Aservat waren offensichtlich weitere Personen beteiligt, im Landtag informierte die Justizministerin das Parlament fehlerhaft. Zudem stellte sich heraus, dass es bereits zwei weitere Todesfälle in der Dessauer Polizeidienstelle gegeben hatte. Der mehrfache Familienvater Hans Jürgen Rose war nach einer Alkoholfahrt am 7. Dezember 1997 nachts nur wenige Stunden in derselben Dessauer Polizeizelle gelandet. Er wurde zwei Stunden nach seiner Entlassung mit schwersten Verletzungen, an denen er am Folgetag starb, in der Nähe der Wache gefunden. Am  29. Oktober 2002 wurde der alkoholisierte Obdachlose Mario Bichtemann in die Dessauer Polizeistation verbracht und starb dort an einem Schädelbasisbruch. Die Ermittlungsverfahren in beiden Fällen wurden eingestellt. Im Falle Oury Yalloh sollten offensichtlich frühere gewaltsame Todesfälle in derselben Dienststelle verdeckt werden, wie in der Filmdokumentation vermutet wird. Offensichtlich haben Polizei, Justiz, Staatsanwaltschaft und Politik in Dessau komplett bei der Aufklärung mehrerer Todesfälle in Polizeigewahrsam versagt. Was ist los mit einem Staat, auf dessen Institutionen sich Bürger und Bürgerinnen nicht mehr verlassen können, weil Fragen wie Cop Culture sowie Rassismus in der Gesellschaft und in Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung ausgespart werden? Der Staat ist bei der Aufklärung von Gewaltverbrechen in der Pflicht und er bleibt es auch in Dessau. Und er benötigt beim Verdacht von Polizeigewalt dringend unabhängige Kontrollorgane und Beschwerdestellen.

Vereint im Ressentiment

geschrieben von Axel Holz

26. November 2024

Zum zwölften Mal untersuchen die Leipziger Autoritarismusstudien demokratische und demokratieverachtende Positionen, pluralistische und autoritäre Einstellungsmuster in Deutschland. Immer noch findet die überwiegende Mehrheit die Idee der Demokratie gut, mit 94,6 Prozent sogar mehr im Osten als im Westen mit 89,4 Prozent, aber sie verliert an Akzeptanz. Mit der Demokratie in der Verfassung sind bundesweit nur noch 70,9 Prozent zufrieden und mit der Alltagsdemokratie, wie sie in der Bundesrepublik funktioniert, ist nur noch eine Minderheit zufrieden – im Westen 42,3 und im Osten nur 29,7 Prozent. Subjektive Gründe für diese Bewertung sind die Unzufriedenheit mit Politikern, Parteien, Regierung und Bürokratie. Die Wahrnehmung einer Abfolge von Krisen von Finanzen, Corona, Migration, Energie, Inflation bis zum Krieg in der Ukraine haben die Skepsis gegenüber den Lösungskompetenzen der demokratischen Institutionen deutlich wachsen lassen. Gleichzeitig steigt das Gefühl unter der Bevölkerung, keinen Einfluss auf die Politik zu gewinnen, heißt es im Vorwort der neuen Autoritarismusstudie. Die Demokratie steht unter Druck, wobei sich der Wunsch nach einer starken Partei Bahn bricht. Die tatsächliche Legitimität der Demokratie erweise sich zunehmend als fragil und unter der Bevölkerung wenig eindeutig verbreitet, konstatieren die Autoren im Kapitel zur politischen Kultur. Die fragilen Demokraten und Autokraten stehen den soliden Demokraten nahezu ebenbürtig gegenüber. Die Demokratie könne sich demnach nicht mehr auf ihre Bürger verlassen, bewertet die Studie. Die Auseinandersetzung finde nicht nur um die Gestaltung der Gesellschaft, um politische Präferenzen und die Qualität politischer Entscheidungen statt. Der Streit entbrenne vielmehr zunehmend um das politische System.

Ursachenforschung

Die allgemeine Unzufriedenheit mit der Demokratie präsentiert sich in den Augen der Autoren im Kontext mangelhafter Legitimitätsgefühle, einer schlechten Beurteilung der wirtschaftlichen Lage, dem Fehlen politischer Selbstwirksamkeit und von Zukunftsängsten als besonders groß. Ängste bestehen insbesondere vor weiterer Migration, obwohl das Wachstum der SV-pflichtig Beschäftigten in den Jahren von 2010 bis 2023 um 24 Prozent[1] allein durch Zuwanderung um zusätzlich 3,4 Millionen SV-Pflichtige erfolgte und Menschen ohne deutschen Pass nach einer Studie der Betelmannstiftung[2] in ihrer Bevölkerungsgruppe jährlich 22 Milliarden Überschuss in den Sozialsystemen erzeugen. Unzufriedenheit mit der Demokratie stützt sich darüber hinaus auf Politik- und Politikerverdrossenheit und die empfundene mangelnde Möglichkeit der direkten Einflussnahme. In manchen Fällen ist die Unzufriedenheit mit der Demokratie, rechtsextrem gewandt, an völkische Forderungen gekoppelt.

Vorurteile nehmen zu

Der Bevölkerungsanteil mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild ist gesunken, während diskriminierende Positionen bundesweit hoch ausgeprägt sind und in den westlichen Bundesländern sogar zunehmen, darunter Ausländerfeindlichkeit, Chauvinismus,  Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit. Im Osten bleibt die Ausländerfeindlichkeit  auf hohem Niveau – mit 44,3 Prozent manifest verankert und bei weiteren 29,7 Prozent latent ausgeprägt. Dort bestimmt tradierter Antisemitismus die Einstellung von 20,5 Prozent der Bevölkerung. Antisemitische Vorstellungen bestehen im Osten überdurchschnittlich als Ressentiments gegenüber Israel und als postkolonialer Antisemitismus, bei dem es im nahen Osten im Kern um einen Konflikt zwischen weißem Kolonialismus und unterdrückten Minderheiten gehe. Auch haben im Osten Antifeminismus und Sexismus zugenommen. Antisemitismus droht bundesweit über politische Lager hinweg zur Brückenideologie zu werden.

Für den Wahlerfolg der AfD ist Ethnozentrismus wahlentscheidend, wobei Ausländerfeindlichkeit als Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus fungiert. Die Studie bestätigt in einem besonderen Kapitel, dass Antifeminismus und Antisemitismus eine autoritär motivierte Verbindung eingehen. Dabei spielt manifeste Transfeindlichkeit in allen gesellschaftlichen Gruppen bei 53 Prozent der Ostdeutschen eine besonders negative Rolle im Verhältnis zu 36 Prozent der Westdeutschen. Die Rückkehr zu klassischen Rollenbildern der Geschlechter ist bundesweit feststellbar, wirkt aber im Osten mit seiner höheren Frauenerwerbstätigkeit als ein neuer Trend. Muslimfeindlichkeit verweilt auf hohem Niveau. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Ost und West empfinden sich durch Muslime manchmal als Fremde im eigenen Land. Ähnlich sieht es mit Vorurteilen gegenüber Sinti und Roma aus. Vierzig Prozent der 2.504 repräsentativ ausgewählten Studienteilnehmenden meinen, Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten entfernt werden.

Die gemeinsame Autoritarismusstudie der Otto-Brenner- und der Heinrich-Böll-Stiftung schließt mit einem hoffnungsvollen Kapitel zur Selbstverortung jüdischer Aktivisten in Deutschland und zu den Protesten gegen Rechtsextremismus 2024. Leider wurde dieser Teil in der PDF-Version auf der Homepage ausgespart.


[1] Beschäftigungsstatistik – Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Arbeitsort – Statistisches Bundesamt, 30.06.2023

[2] Sozialstaat profitiert von Zuwanderung, Bertelsmann-Stiftung 2014, Ausländer haben den Sozialstaat 2012 um 22 Milliarden Euro entlastet – 3.300 Euro pro Kopf. Noch stärker profitieren könnte Deutschland, wenn es mehr in Bildung investiert und auf qualifizierte Zuwanderung setzt.

Ist das schon antisemitisch?

geschrieben von Axel Holz

17. November 2024

Satiren, Geschichten und Cartoons gegen den Judenhass. Das ist der Untertitel des im Verlag Satyr im September erschienen Buches „Sind Antisemitisten anwesend?“.  Herausgeber und Autoren sind Lea Streisand, die Essays und Kolumnen für taz, Berliner Zeitung und Jüdische Allgemeine schreibt, der Berliner Autor in „Die Wahrheit“, taz und Jungel World Michael Bittner sowie der taz-, Titanic-Autor und Lesebühnenaktivist Heiko Werning. Im Band sind 80 Satiren, Essays, Gedichte, Geschichten und Cartoons gegen den Hass versammelt. Die Autoren konstatieren, dass wieder mal die Juden an allem Schuld seien, selbst am 7. Oktober 2023. In diesen schrägen Gesang stimmten Linke und Rechte, Migrationshintergründler und „Kartoffeln“, Islamisten und Queere ebenso ein wie Neonazis, Berufszonis und DekolonilalistInnen, erläutert Herausgeberin Lea Streisand im Interview mit radioeins. Aus ihrer Familie hatte nur ihr Großvater die Nazi-Zeit überlebt. Wir vergessen niemals, schreibt sie in ihrer Geschichte über den Palast der Republik,  aus dem ihre Eltern am Hochzeitstag eingravierte Löffel mitgehen ließen. Die Gravur lässt sich heute in so manchem ostdeutschen Küchenschrank wiederentdecken.

In der Einleitung zum Buch bestätigen die Autoren auf satirische Weise, dass dieses Buch natürlich von den Weisen Zions und Bill Gates gesponsert sei. Weitere antisemitische Klischees und Verschwörungserzählungen werden dem Leser durchgehend im Buch begegnen. Ob in den Achtzigern  im ostdeutschen Pionierlager, beim Interrail-Trip westdeutscher Jugendlicher nach Marokko oder beim Israel-Besuch eines deutschen Teanagers zu seiner Freundin, als ihm ein Araber unaufgefordert das Türschloss repariert. Das Buch ist unterhaltsam und oft sarkastisch, der jüdische Humor eingeschlossen. Humor ist ohnehin etwas, mit dem Antisemiten oft nur wenig anfangen können.

Israel in Frage stellen

Arianne Lemme stört die Wut der propalästinensischen Proteste nach dem 7. Oktober, die mit der Haltung verbunden sei: Wir haben nicht das ganze Land, also lehnen wir jedes Angebot auf einen Teil ab. Besser wäre Mitgefühl, meint die Autorin. Aber dafür müsste die Gleichsetzung von Terror und Verteidigung endlich aufhören. Mark-Stefan Tietze verfolgt die Facebook-Einträge nach einer ZDF-heute-Sendung über die Tötung von sieben Mitarbeitenden der internationalen Hilfsorganisation „World Central Kitchen“, die Israels Führung als Versehen bedauert. In den Einträgen interessiere sich niemand für die Kriegsziele, die Hamas auszuschalten und die Geiseln zu befreien. Auch wenn keiner der Kommentatoren die Formel vom „ewigen Juden“ benutze – mit seiner unabänderlich bösen Natur, seinem zerstörerischen und kriegslüsternen Charakter und seiner seltsamen Besessenheit, aus heiterem Himmel Kinder zu ermorden. Eben dieser Antisemitismus scheint in den Kommentaren unter der Hand hervor.

In Vielfalt vereint

Die Lösung gegen Antisemitismus sucht Bodo Wartke und resümiert: Nationalisten, Islamisten, Fundamentalisten und Gangsterrap-Artisten hätten viel mehr gemeinsam als man meint. Neben Homophobie und Frauenfeindlichkeit eben auch Antisemitismus. Bei Miriam Wurster im Cartoon trauen sich jüdische Menschen nicht mehr raus. Sie könnten leider  nicht erkennen, ob es sich um rechtsradikalen, muslimischen, linken Antisemitismus oder den aus der Mitte der Gesellschaft handele, heißt es in der Sprechblase dazu.

Das Pali-Tuch im Schrank

Die Geschichte eines Kleidungsstücks erzählt Volker Surmann, der Satyr-Verleger, der für die Berliner Lesebühne Brauseboys schreibt. Als Oberstufenschüler eines Landgymnasiums bei Bielefeld gehörte das Pali-Tuch bei der eher linken Schülerschaft einfach dazu. Die Tücher waren warm und haben beim Fahrradfahren sicher mancher Erkältung vorgebeugt, blickt der Autor zurück. Sie würden aber weiter ein Schattendasein hinten in seinem Kleiderschrank fristen. Es sei denn im Nahen Osten beginne ein Friedensprozess ohne Terror und radikale Siedler, mit Demokraten in zwei souveränen Staaten, Nobelpreis und dem ersten Gaza-Pride, kommentiert der Autor. Aber er befürchtet auch, die Motten könnten schneller sein.

Sind Antisemitisten anwesend?, Satiren, Geschichten und Cartoons gegen Judenhass, Buch Hardcover,  2024, 384 S., Satyr Verlag, ISBN 978-3-910775-18-3, Preis: 26 Euro

Demo für Prüfung eines AfD-Verbots

geschrieben von Axel Holz

11. November 2024

Mehr als 400 Menschen haben am 9. November vor dem Wismarer Rathaus für die Prüfung eines AfD-Verbots demonstriert. Zuvor waren DemonstrantInnen vom Bahnhof mit Transparenten zum Markt marschiert, um ihr Anliegen öffentlich deutlich zu machen. Hinter dem Banner der VVN-BdA für ein Verbot aller Nazi-Parteien vereint, hatten sich die Redner in die erste Reihe der Demonstration gestellt. Am Markt hatten zwei Einreicher einer Gruppe von Bundestagsabgeordneten ihr Argumente für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der AfD begründet – MdB Maja Wallstein (SPD) und, verlesen durch Horst Krumpen, auch MdB Anke Domscheit-Berg. MdB Marco Wanderwitz (CDU), der den Gruppenantrag im Bundestag initiiert hatte, war zwar als Redner angemeldet, musste aber kurzfristig absagen. Ansprechende Redebeiträge hielten auch der Bürgermeister der Stadt Wismar Thomas Beyer und die Vorsitzende des Flüchtlingsrats MV Ulrike Seemann-Katz.

Erneut Schändung des Ehren-Friedhofs in Schwerin

geschrieben von Axel Holz

8. Oktober 2024

Auf dem Platz der OdF in Schwerin wurde zwischen dem 2. und 4. Oktober wiederholt der Ehrenfriedhof mit Gräbern sowjetischer Soldaten, von KZ-Häftlingen und Verfolgten des Naziregimes geschändet. Nach Angaben der Friedhofsverwaltung übertrifft der Grad der Verwüstung von 28 Grabstellen das Ausmaß ähnlicher Fälle in früheren Jahren bei Weitem. SVZ und Nordkurier haben über die Friedhofsschändung berichtet. Der Nordkurier hatte formuliert, dass ein politisches Motiv von der Polizei geprüft werden. Dies dürfte nach zahlreichen vergangenen Vorfällen eben nur auf diesem Friedhof in Schwerin auf der Hand liegen. Die VVN-BdA Mecklenburg-Vorpommern hatte in einer Pressemitteilung bereits vor wenigen Wochen über den massiven Anstieg rechtsextremer Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern berichtet. Die erneute Friedhofsschändung gegen das Andenken an die Opfer des Faschismus und an die Befreier vom Faschismus reiht sich in diese verheerende Entwicklung ein. Oberbürgermeister Rico Badenschier kommentierte im Nordkurier, wir könnten nicht zulassen, dass das Andenken an die Opfer des Faschismus zerstört und beschmutzt werde. Der materielle Schaden belaufe sich auf 15.000 bis 20.000 Eure, informierte Stadtsprecherin Michaela Christen. Selbstverständlich würden die Grabzeichen durch die Stadt repariert und wieder aufgestellt werden.

Rostock: Gedenken für die Opfer des Faschismus am 8. September

geschrieben von Axel Holz

4. September 2024

Die VVN-BdA Rostock lädt am 8. September 2024 um 14 Uhr zum Gedenken an die Opfer des Faschismus in den Rostocker Rosengarten ein. Die Gedenkrede hält Fabian Scheller vom DGB.

Stolpersteinverlegung für Zeugin Jehovas am 25. September in Schwerin

geschrieben von Axel Holz

4. September 2024

Am 25. September 2024 wird gegen 15 Uhr in der Heinrich-Mann-Straße 6 ein Stolperstein für die Zeugin Jehovas Emma Tiesel verlegt. Die Gedenkstunde findet um 17 Uhr am Südufer des Pfaffenteichs statt.

In einer Begleitveranstaltung wird Falk Bersch am 10. September 2024 um 18 Uhr im Schleswig-Holstein-Haus einen Vortrag dazu halten: „Von Sachsenhausen nach Schwerin: Jehovas Zeugen und der Todesmarsch“. Interessierte sind herzlich eingeladen.

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