KZ überlebt

Zehn Jahre lang nahm Stefan Hanke Kontakt zu KZ-Überlebenden auf. Er wollte ihre Geschichte hören und mit einem persönlichen Porträt weitergeben. Zahlreiche KZ-Insassen hatten den Mord an Millionen KZ-Opfern überlebt, aber ihr Leidensweg war nicht zu Ende. Viele schwiegen über ihr Schicksal oft ein Leben lang oder sprachen darüber erst im hohen Alter. Hankes Projekt war ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Überlebenden aus sieben Ländern waren mittlerweile zwischen 70 und 105 Jahre alt. Sie waren jüdischer Herkunft, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Kriegsgefangene, ehemalige politische Häftlinge oder als „Asoziale“ diskriminierte Häftlinge. Das Interview mit einem homosexuellen Opfer kam nicht mehr zustande, weil der betreffende KZ-Überlebende zum Fototermin bereits verstorben war. Mittlerweile sind zahlreiche Interviewpartner von Stefan Hanke nicht mehr am Leben. Der Autor hat ihnen einen Denkmal gesetzt – und damit stellvertretend allen NS-Opfern.
Stefan Hanke wollte seine Interviewpartner mit Empathie und Neugier ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Er hatte dafür akribisch Fachliteratur über die Konzentrationslager gewälzt und sich gut vorbereitet, bei Aufnahmen in den Gedenkstätten umfassende Informationen über die Örtlichkeiten eingeholt und versucht, deren Bezug zu den Überlebenden herzustellen. Er wollte keinen Opferschablonen für sein Vorhaben folgen, sondern die KZ-Überlebenden selbst unbefangen erleben und aus dieser Situation heraus fotografieren. Den Überlebenden sollte eine Atmosphäre geboten werden, ihre Geschichte zu erzählen und nicht zu erklären.
Er erlebte KZ-Überlebende oft stundenlang, manchmal tonlos, manchmal lachend, manchmal weinend, mit geschlossenen Augen, aber auch singend. Etwa Barbara Pankowsky, die in der Gedenkstätte Auschwitz das Volkslied Kalinka anstimmte, das sie erstmals hörte, als sowjetische Soldaten sie befreiten. Shlomo Graber hatte 32 Familienmitglieder verloren, die die Nazis ermordet hatten. Er selbst überlebte den Todesmarsch nur knapp. Bei der Geburt seines ersten Kindes lachte er. Dies sei seine Rache an Hitler, erzählte Graber im Interview mit dem Fotografen.
Die Zeitzeugen konnten sich den Ort ihres Fotos selbst aussuchen. Pavel Stransky hatte seine Frau mit einem im Lager geschmiedeten Eisenring im KZ geheiratet und damit seinen Überlebenswillen gestärkt. Er wählte den Gerichtssaal 600 des Nürnberger Gerichtspalastes als Kulisse für sein Foto, dem Ort, am dem zahlreiche NS-Täter verurteilt worden waren. Die Polin Wieslana Borsysiewicz blickte immer noch ängstlich aus dem Fenster der Baracke 16a des Frauenlagers in Auschwitz. Hier hatte sie ihre dunkelsten Stunden erlebt und durfte seinerzeit unter Strafandrohung nicht aus dem Fenster schauen. Andere wollten sich nicht an den Orten fotografieren lassen, die sie zu sehr an ihr Leid erinnerten.
Hanke wollte empathisch sein, hörte zu und versuchte, seine Emotionen nicht in den Vordergrund zu stellen. Das gelang ihm nicht immer. 2011 zeigt ihm eine Überlebende das Foto ihrer ermordeten Schwester, die mit lustigen Zöpfen zuversichtlich zur Schule schritt. Es erinnerte Hanke an ein ähnliches Foto seiner Tochter. Plötzlich sei das Grauen sehr greifbar und der Terror präsent gewesen, erinnerte sich Hanke.
Hankes Bildband erzählt Geschichten von KZ-Überlebenden. Darunter die von Esther Bejerano in den Lagern Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück. Ihr Vater war Oberkantor einer jüdischen Gemeinde, so dass Musik ihr Leben stark beeinflusste. In Auschwitz überlebte sie im Mädchen-Orchester, wo sie sich das Akkordeonspiel selbst beigebracht hatte. Musik begleitete sie ein Leben lang, zuletzt bei zahlreichen Lesungen und Auftritten mit der Rap-Gruppe Microphone Mafia. Esther Bejerano war Ehrenvorsitzende der VVN-BdA, engagierte sich politisch als Antifaschistin, als Zeitzeugin und im Auschwitz-Komitee.
Ernst Grube stand auf dem Porträtfoto des Bildbandes am Güterbahnhof Milbertshofen, von dem aus viele Münchner Juden in KZs deportiert wurden. Der Sohn einer jüdischen Mutter erfuhr in der NS-Zeit schon bald Diskriminierungund Verfolgung. Im Februar 1945 wurde er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Auschwitz deportiert. Alle erlebten ihre Befreiung, aber die Geschwister der Mutter waren zusammen mit deren Ehemännern und Kindern ermordet worden. Ernst Grube hat sich in der KPD, der VVN-BdA und in der Gewerkschaft im Sinne der von den Nazis verfolgten Menschen eingesetzt und war dabei in der Bundesrepublik neuen Verfolgungen ausgesetzt.
Hugo Höllenreiner erinnerte sich an den SS-Arzt Josef Mengele, der durch seine Verbrechen zum „Todesengel von Auschwitz“ wurde. Der 1933 in einer Sinti-Familie Geborene wurde von der Rassenhygienischen Forschungsstelle der Nazis als „Zigeunermischling“ abgewertet. Er überlebte die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen. Westdeutsche Gerichte erkannten die rassistischen Bewegründe seiner Verfolgung nicht an. Sie stützten sich auf diskriminierende Polizeiakten, die für die Verfolgung der Sinti und Roma unter den Nazis verantwortlich waren.
Regensburgs Oberbürgermeister Joachim Wolberg bezeichnete Hankes Porträts als ein gelungenes Beispiel für den Kampf gegen das Vergessen und gleichzeitig als Mahnung an uns alle, an unsere Menschlichkeit. Hankes Recherchen zu seinem Bildband füllen mehrere Schränke aus. Darin ist mittlerweile auch ein neuer Ordner über Absagen von Veranstaltern zu seinem Ausstellungsangebot über KZ-Überlebende. Die Absagen kommen überwiegend aus Deutschland.