Die Banalität des Bösen

geschrieben von Axel Holz

24. Juli 2024

Als Banalität des Bösen charakterisierte Hannah Arendt als Reporterin beim Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961 den Tätertyp Adolf Eichmanns. Dieser habe bei der „Endlösung der Judenfrage“ eine geringere Rolle gespielt, als die Anklage unterstellte. Die Artikelserie erschien 1963 zunächst im New Yorker, im selben Jahr als Buch in den USA und 1964 auch in deutscher Sprache. Manche sehen in der Formulierung eine Phrase, andere eine Chiffre und ein Resümee des Buches, die nur im letzten Satz des Berichtes vorkommt und erst nachträglich in den Titel und das Vorwort des Buches aufgenommen wurde.

Worum geht es im Prozess und worum nicht?

Der SS-Obersturmführer und Leiter des Judenreferats beim Reichssicherheitshauptamt, Adolf Eichmann, war nach dem Krieg nach Argentinien geflohen, lebte dort unter dem Namen Ricardo Klement und tauschte sich in Argentinien weiter mit Nazis aus, wie Tonbandprotokolle von Gesprächen mit  dem niederländischen SS-Mann Willem Sessen belegen. Der israelische Geheimdienst hatte den Staatenlosen nach Hinweisen in Argentinien aufgespürt, 1960 festgenommen und nach Israel gebracht. Dort wurde Eichmann vom März bis Dezember 1961 der Prozess gemacht. Der Prozess endete mit einem Todesurteil, das im Juni 1962 vollstreckt wurde. Eichmann galt als Architekt des Holocausts. Hunderte Zeugen erschienen zum Prozess, der weltweit Aufmerksamkeit erzeugte und nicht ohne Grund auch Bonner Politiker in Unruhe versetzte. Denn anders als die Israelis befürchteten, kooperierte Eichmann umfangreich und konnte auch einflussreiche deutsche Politiker mit deren Nazivergangenheit belasten.

Im Prozess ging es um die strafrechtliche Verantwortung Eichmanns am Mord an bis zu sechs Millionen europäischen Juden, deren Deportation Eichmann maßgeblich vom Schreibtisch aber auch vor Ort organisiert hatte. Es ging nicht um die Geschichte der Naziherrschaft oder gar um die Geschichte des Antisemitismus, obwohl beides eine wichtige Rolle im Prozess spielte. Hannah Arendt hatte die umfangreiche Analyse des Holocaust in der Darstellung von Raul Hilberg (s. antifa 11/12-2023) in ihren Bericht aufgenommen, war aber zu anderen Schlussfolgerungen gekommen. Sie erkannte in Eichmann nicht das Monster, das das Gericht entlarven wollte. Es gelang dem Gericht nicht, Eichmann auch nur einen direkten Mord nachzuweisen. Eine Zeugenaussage, wonach Eichmann einen Jungen in Auschwitz geschlagen haben sollte, erwies sich als falsch, weil er zu diesem Zeitpunkt woanders war.

Der Unwille sich vorzustellen, was mit dem anderen ist

Die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt erkannte in Eichmann einen neuen Tätertyp, der bisher kaum im Fokus war. Eichmann war der Technokrat und Organisator, für den Gehorsam und sein eigenes Fortkommen die einzigen Motive seines Handelns waren. Eichmann war austuschbar und das Beunruhigende sah Hannah Ahrendt darin, dass er wie viele erschreckend normal war. Es war seine schiere Gedankenlosigkeit und Realitätsferne, die mehr Unheil anrichten könne als alle dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammen, kommentierte Arendt. Darin liege der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität, analysiert die Publizistin. Adolf Eichmann war nicht in der Lage sich vorzustellen, was mit anderen ist. Eichmann wusste vom Ziel der Ermordung der Juden, was er auf der Wannsee-Konferenz protokollierte. Er zog sich im Prozess aber auf seinen spezifischen Verantwortungsbereich, auf Gehorsam zurück und lehnte die Teilhabe an der Gesamtverantwortung ab. Das Argument des Gehorsams lässt Arendt nicht gelten, denn im politischen Bereich der Erwachsenen sei Gehorsam nur ein anderes Wort für Zustimmung und Unterstützung.

Die Kritik an Arendt

Hannah Arends Analyse stieß zunächst auf großes Unverständnis. Der Council of Jews from Germany sprach schon eine Woche nach der Veröffentlichung von einem verfälschten Geschichtsbild bei Arendt, insbesondere wegen deren Kritik an einer Teilverantwortung der Judenräte in deren Zwangssituation für den Tod vieler Juden.  Kritik fand auch ihr ironischer Schreibstil. Wissenschaftler und Richter im Nürnberger Prozess behaupteten, Arendt schenke Eichmanns Prahlerei Glauben und nehme ihn in Schutz. Sie spiele den Deutschen bei der Gewissenserleichterung zu, kritisierten andere. Historiker sprachen ihr die fachliche und sachliche Kompetenz ab. In einer Neuausgabe von „Eichmann in Jerusalem“ erschien das Buch 1986 mit einem längeren Vorwort von Hans Mommsen. Er war Vertreter der funktionalistischen Interpretation des NS-Herrschaftssystems. Dieses könne nicht als Befehlshierarchie beschrieben werden, sondern müsse als kumulative Radikalisierung hin zur „Endlösung“ verstanden werden, wobei Ressorts und Instanzen bei der Umsetzung gegenseitig miteinander konkurrierten. Mommsen stellt dabei überrascht fest, dass die Kernannahme von Arendt durch die historische Forschung bestätigt wurde.

Aktualität der Analyse

Das größte begangene Böse sei das Böse, das von niemandem  getan werde, also von menschlichen Wesen, die sich weigern, eine Person zu sein, so Arendt. Dem zu Grunde liegen die fehlende Bereitschaft und das fehlende Vermögen, sich in andere und deren Situation hineinzuversetzen. Davon ist bis heute in der Migrationsdebatte viel übrig geblieben.

Quelle: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen, Erweiterte Neuausgabe des Piperverlags, München 2022

Wahlen mit Signalwirkung

geschrieben von Ulrich Schneider

17. Juli 2024

Anfang Juli 2024 fanden Wahlen zu den nationalen Parlamenten in Großbritannien und Frankreich statt. Im Falle Großbritanniens erlebten die konservativen Tories eine krachende Niederlage, während Labour zum ersten Mal seit über 10 Jahren mit einer absoluten Mehrheit regieren kann. In Frankreich wurde das Bündnis Nouveau Front Populaire (NFP) stärkste Kraft in Parlament, auch wenn es die absolute Mehrheit verpasste. Beide Wahlen haben durchaus Signalwirkung, wenngleich die Resultate auch dem Mehrheitswahlsystem in beiden Ländern geschuldet sind.
Das britische Mehrheitswahlrecht drückt nur eingeschränkt die tatsächliche politische Stimmung im Land aus, wie ein Vergleich der prozentualen Wahlergebnisse von 2024 zeigt. Labour gewinnt 1,4% und erreicht mit 33,8% allein 411 Mandate, während die Tories fast 20% verlieren, auf 23,7% abstürzen und nur noch über 120 Mandate verfügen. Diese Stimmen der Tories gehen in großer Zahl zu Nigel Farage mit seiner „Reform UK“, die 12,3% gewinnt und mit 14,3% drittstärkste Kraft jedoch nur fünf Mandaten erhält. Die Liberalen gewinnen 0,7% und erreichen bei gut 12% 71 Mandate, während sich die Grünen bei 6,8% über vier Mandate freuen konnten. Abgestürzt ist die schottische Unabhängigkeitspartei, deren 2,4% nur zu neun Mandaten reichten. Sinn Fein und die walisische Partei konnten ihre Positionen jedoch halten.
Auch in Frankreich verschiebt das Mehrheitswahlrecht die Stimmungslage im Land. Nachdem es im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen noch nach einem „Durchmarsch“ des RN – in einer Koalition mit der Zemmour-Partei – aussah (siehe Newsletter 2024-27), ergab sich durch die gesellschaftliche Mobilisierung und teilweise eingehaltenen Absprachen zwischen der Macron Partei „Ensemble“ mit dem NFP  tatsächlich eine neue Konstellation. Wichtig war, dass auch bei diesem Wahlgang die Wahlbeteiligung hoch lag. NFP erreichte als stärkste Kraft 182 Mandate. Das ist zwar weit von der absoluten Mehrheit (289 Sitze) entfernt, ist aber als politisches Gewicht nicht zu übersehen. Zusätzlich wurden etwa 10 unabhängige linke Kandidat*innen gewählt, so dass knapp 200 Stimmen für die Gruppe der NFP gerechnet werden können.  
Die Macron-Partei erreichte nach dem Desaster der ersten Wahlrunde (21% Wählerstimmen) noch den zweiten Platz mit 168 Mandaten. Ob jedoch die 45 Mandate der konservativen Les Républicans als Koalitionspartner im Parlament angesehen werden können, ist fraglich. Deren Spitzenkräfte orientieren sich eher auf den RN, der mit 143 Mandaten deutlich hinter seinen eigenen Erwartungen und den politischen Prognosen zurückblieb.
Wenn man jedoch die absoluten Zahlen dieser Wahl betrachtet, dann wird deutlich, dass es keinen Grund für Antifaschisten geben kann, sich beruhigt zurückzulehnen. Auch im zweiten Wahlgang blieb der RN in absoluten Zahlen die stärkste politische Kraft.
Die Haltung von Präsident Macron, mit der Ablehnung des Rücktritts von Premierminister Attal „auf Zeit zu spielen“, kann keine erfolgreiche Strategie gegen den Vormarsch der extremen Rechten sein. Marine Le Pen hat sich bereits am Wahlabend in Stellung gebracht für die kommenden Präsidentschaftswahl, bei der sie hofft, nicht nur erneut in die Stichwahl zu kommen, sondern diesmal tatsächlich an die Spitze der Macht.
Die politischen Konsequenzen in beiden Ländern sind ähnlich. Die Menschen, die sich an der Wahl beteiligt haben, haben große Erwartungen in eine politische Neuausrichtung. Die zentrale Losung in Großbritannien lautete „Change“, selbst wenn Labour nur 1,4% gewinnen konnte. Doch jeder, der Labour gewählt hat, erwartet ein deutlich verbessertes Gesundheitswesen, Fortschritte in der öffentlichen Daseinsvorsorge und eine Rücknahme der rassistischen Ausweisungspolitik der Tories. Die Tatsache, dass Jeremy Corbin als Unabhängiger direkt in das Unterhaus gewählt wurde, zeigt, dass es in der Gesellschaft Stimmungen für einen progressiven Aufbruch gibt. Dafür müsste Labour jedoch ihre eigene Programmatik schärfen und Einschnitte in die ökonomischen Machtverhältnisse in Großbritannien vornehmen, weil anderenfalls die finanziellen Mittel für die staatlichen Aufgaben nicht vorhanden wären. Das politische Problem des Rassismus bleibt auf der Tagesordnung. Zwar haben die Tories ihre Mandate verloren, aber zu Gunsten von Nigel Farage, der nach der Brexit-Propaganda nun die rassistische Karte gegen die Migranten spielt. Selbst wenn Farage nur fünf Mandate erreichte, sein politischer Einfluss ist ungefähr so stark wie der der AfD in Deutschland.
Auch in Frankreich wird es darauf ankommen, wie stabil sich das Bündnis der NFP innerhalb des Parlamentes erweist. Erfolgreich war das Bündnis in der Abwehr des Vormarsches der extremen Rechten des RN. Nun geht es darum, Forderungen der Menschen, z.B. nach Rücknahme der Rentenregelung und anderer sozialer Grausamkeiten, durchzusetzen. Dies kann nur gelingen, wenn neben dem Wahlerfolg eine gesellschaftliche Mobilisierung den Druck auf das Parlament verstärkt. Die antifaschistischen Kräfte stehen also weiterhin vor großen Aufgaben.

Ankündigung: Gedenkfahrradtour vom 12. bis 15. September von Barth nach Anklam

24. April 2024

Wir laden zur Fahrradgedenktour der VVN vom 12.-15.09.2024 von Barth nach Anklam ein. Bitte meldet euch bei Interesse bis zum 1. Juli 2024 an. Kostenfreie Stornierungen sind bis zum 11. August möglich.

Die Zahl der Teilnehmenden mit Übernachtung/Frühstück ist auf 18 Personen begrenzt. Es ist auch möglich, nur eine oder mehrere Teilstrecken mitzufahren.

Wir beginnen am Donnerstag diesmal um 12.30 Uhr am Bahnhof in Barth und besuchen dort verschieden Gedenkorte, eine Ausstellung im Stadthaus und schauen uns dort einen Film an. Die erste Etappe mit dem Fahrrad radeln wir erst am Folgetag. Wir besuchen die Initiative „Demmin nazifrei“ in Demmin, den Gedenkort Alt Rehse mit der ehemaligen Ärzteführerschule und das Friedenszentrum in Anklam am Standort des ehemaligen Wehrmachtsgefängnisses. Gegen 15 Uhr endet am Sonntag unser Besuch in Anklam. Die Schweriner Teilnehmerinnen können mit dem Begleitbus ab Schwerin/ Hauptbahnhof nach Barth fahren und von Anklam zurück nach Schwerin. Nach Barth und von Anklam gibt es für die übrigen Teilnehmenden regelmäßige Zugverbindungen. Interessenten melden sich bitte über das Kontaktformular der VVN-BdA MV an.

Weitere Informationen können im beiliegenden Flyer entnommen werden.

Ankündigung: Gedenken zum Tag der Befreiung am 8. Mai in Schwerin

geschrieben von Axel Holz

24. April 2024

Wir laden im Namen der Osteuropa Freundschaftsgesellschaft MV e. V., dem Deutsch-Russischen Kulturzentrum KONTAKT e.V., dem Verein für kulturelle Jugendarbeit und Integration Kuljugin e. V. und der VVN-BdA Westmecklenburg-Schwerin herzlich zum Gedenken aus Anlass des Jahrestages der Befreiung vom Faschismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa am Mittwoch, dem 08.05.2024 um 17.00 Uhr, auf den Ehrenfriedhof am Platz der OdF ein. Es spricht der Landtagsabgeordnete Henning Förster. Das Ablegen der Gebinde und Blumen zum ehrenden Gedenken an die Opfer von Faschismus und des Zweiten Weltkrieges bildet den Abschluss der Gedenkveranstaltung.

Gedenkmarsch am 1. Mai ab Ribnitz-Damgarten

geschrieben von A. Holz

24. April 2024

Vom November 1943 bis April/Mai 1945 befand sich mit dem KZ Barth als Außenlager des KZ Ravensbrück ein Konzentrations- und Gefangenenlager in der Region, in dem etwa 7.000 Häftlinge Zwangsarbeit für hiesige Rüstungsbetriebe leisten mussten. Insgesamt verloren tausende Zwangsarbeiter und Häftlinge im Konzentrationslager und auf den Todesmärschen in Richtung Rostock zum Kriegsende ihr Leben. Vor 30 Jahren fanden sich engagierte Menschen zusammen, die der Meinung waren, dass man den Marsch der Häftlinge und deren Leiden besser versteht, wenn man den Weg von Barth bis Ribnitz selbst geht. In den letzten dreißig Jahren nahmen so Menschen u.a. aus Schwerin, Rostock, Berlin, Wolgast und aus Dresden den über 30 km langen Weg in Angriff. Heute im Jahr 2024 treffen sich wieder Menschen verschiedenster Altersgruppen und unterschiedlichster politischer Zugehörigkeit und machen sich auf den Weg, um zu unterstreichen: Das Geschehene darf niemals vergessen werden! Unsere und nachfolgende Generationen haben die Pflicht, darüber aufzuklären und zu verhindern, dass sich dieser Teil unserer Geschichte jemals wiederholt!

Wer nicht den gesamten Weg – wie auf dem Plakat beschrieben – gehen kann oder möchte, reiht sich unterwegs ein oder nimmt an der Auftakt- bzw. Abschlussveranstaltung teil. Die gesamte Strecke über wird ein Begleitfahrzeug dabei sein.

Nordkonferenz 2024

geschrieben von Axel Holz

26. März 2024

Anika Taschke von der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Die Nordkonferenz 2024 der VVN-BdA war durch zwei Schwerpunkte geprägt – die bevorstehende Europawahl und den Austausch zu Erfahrungen im Umgang mit antifaschistischen Bündnissen. Etwa 25 Gäste aus vier Bundesländern diskutierten am Vormittag über ihre Erwartungen an die Bundestagswahl. Hier standen vor allem Forderungen zur Weiterentwicklung der EU als Erwartungen an die Europawahlkandidaten gestellt. Dazu wurden mehr Demokratie, gleiche soziale Standards, Bürokratie und Abrüstung angeführt. Es wurde aber auch deutlich, dass die Hauptaufgabe in der Erhaltung der EU besteht, die rechte Parteien wie die AfD gern abschaffen wollen. Dann bräuchten wir über deren Weiterentwicklung nicht mehr diskutieren. Der Schutz der EU sei v.a. deswegen so bedeutsam, weil mit dem Vordringen rechter Parteien neben der Untergrabung der EU auch die Wahrscheinlichkeit sinkt, mit Maßnahmen der EU Verletzungen von Menschenrechten in EU-Ländern wirksam zu sanktionieren, wie dies in Ungarn und Polen geschehen war. Als konkrete VVN-Maßnahmen zu  EU-Wahl wurde auf den aktuellen VVN-Flyer verwiesen, auf Ausstellungstermine der Neofaschismusausstellung  im Vorfeld der EU-Wahl in Kiel und Parchim, auf eine antifaschistische Kulturwoche und auf unsere Geschichtskompetenzen als Verband, die helfen können, Geschichtsrevisionismus wirksam entgegenzutreten.

Am Nachmittag führt Anika Taschke von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in den Umgang mit Bündnissen ein. Sie charakterisierte Bündnisse als lose Zusammenhängen mit zeitlicher Befristung und definierten Zielen, die ausgelotet und klar definiert werden müssten. Es gehe darum für klare Ziele oder gegen etwas gemeinsam zu handeln bzw. sich zu solidarisieren. Die dürften nicht zu eng gesteckt sein, aber auch nicht beliebig werden. Manchmal sei es auch wichtig ein Bündnis zum richtigen Zeitpunkt wieder aufzulösen, wie Thomas Willms in der Diskussion mit Blick auf das unkooperative Bündnis „Dresden nazifrei“ später in der Diskussion erläuterte. In der anschließenden Podiumsdiskussion tauschten Vertreter verschiedener Bündnisse ihre Erfahrungen aus und diskutierten, was sich bewährt hat und aus was man in Zukunft in der Bündnisarbeit besser machen könnte. Darunter waren Jean-Paul Köpsell vom Lübecker Bündnis „Wir können sie stoppen“, Fritz Beise vom Bündnis „Rostock nazifrei“, Bettina Jürgensen vom Kieler „Bündnis gegen Rassismus und Faschismus“ und Thomas Wilms von der Initiative „Aufstehen gegen Rassismus“. Insbesondere zu letzterem wurde viele neue Materialien vorgestellt, mit denen örtliche Initiativen schnell mit aktuellen Materialien gegen rechts aktiv werden können. So waren zum Jahresbeginn unter den Millionen Demonstrierenden gegen rechts neben phantasievollen persönlichen  Botschaften auch bundesweit die Plakate und Flyer von „Aufstehen gegen Rassismus“ zu sehen. Die Stammtischkämpferausbildung der Initiative soll 2024 auf 500 Seminare ausgeweitet werden.

Verdrängung ganz nah

geschrieben von Axel Holz

21. März 2024

Der Film „The Zone of interest“ beschreibt das Familienleben des Auschwitzkommandanten Rudolf Höß am Rande des Konzentrationslagers

Filme über deutsche Konzentrationslager gehören mittlerweile zu unserem kulturellen und politischen Erbe, um an das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte zu erinnern, den Holocaust. Frank Beyers Defa-Film „Nackt unter Wölfen“ hat im Osten Schülergenerationen begleitet, die Verfilmung von Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ die einzige Oskar-Nominierung eines DEFA-Films ermöglicht und auch Artur Brauners Verfilmung von Eugen Yorks Drama „Morituri“ in Westdeutschland hatte für Aufsehen gesorgt. Alle drei Filme spielen im Konzentrationslager und sprechen zu uns aus der Sicht der Häftlinge.

Ein Film aus Täterperspektive

Jonathan Glazers neuer Film wechselt die Perspektive in Richtung Täter und statt Grauen zu zeigen, macht er es hörbar. Er nimmt einen ungewöhnlichen Blickwinkel auf die Deutschen ein und betrachtet die ungeliebte Schwester des Vergessens, die Verdrängung – und dies zugespitzt bis ins Unerträgliche. Die Verfilmung von Martin Amis Roman „Interessengebiete“ betrachtet das Familienleben des Auschwitzkommandanten Rudolf Höß hinter der Mauer des Konzentrationslagers Auschwitz, zusammen mit dessen Frau Hedwig, fünf Kindern, drei Angestellten und einem Hund. Die Villa ist von einem Garten umgeben, den Hedwig das „Paradies“ nennt und sich selbst „Die Königin von Auschwitz“. Während Hedwig Höß ihre Kinder gelegentlich streng zur Ordnung ruft, Rudolf Höss sie zugleich liebevoll umhegt und abends mit seiner Frau vor dem Schlafen lacht und Belanglosigkeiten austauscht, hört man aus dem KZ ständig Zuggeräusche, Schreie der Wachsoldaten und der Häftlinge, Schüsse und das Bellen von Hunden. Das Ganze wirkt wie eine Blaupause der Banalität des Bösen. Tag und Nacht lodern und donnern die Schornsteine der Krematorien während sich Asche über die Gegend legt, die die Nase regelmäßig verstopft. Der Film deutet die Traumata der Höß-Kinder an, um die sich niemand kümmert. Wenn der Vater seiner Tochter das Märchen von Hänsel und Gretel vorliest und darin die Hexe im Ofen verbrannt wird, stockt dem Zuschauer der Atem. Im Hause Höß wird über Auschwitz und Politik nicht geredet.

Überzeugende Charakterstudien

Hedwig Höß gibt sich als strenge Mutter und fleißige Gärtnerin, deren einzige Interessen der nächste Urlaub, Make up, Treffen mit Freundinnen, Geburtstage und Klamotten sind, die als geraubte Pelzmäntel oder Damenwäsche regelmäßig aus dem Lager ankommen wie Amazon-Pakete heute. Sie weiß über Auschwitz Bescheid und droht einer Zwangs-Angestellten bei Ungehorsam ihrem Mann zu befehlen, deren Asche über die Felder von Babice zu verstreuen. Sie wird von ihrer Mutter bei einem Besuch wegen des großzügigen Hauses bewundert, die aber nach kurzer Zeit überraschend wieder abfährt und wortlos einen Brief hinterlässt, den Hedwig wütend verbrennt. Sie will nicht daran erinnert werden, wie unerträglich das Leben in Auschwitz ist, das sie führt und genießt. Zugleich ist es Hedwig, die ihren Ehemann zur Karriere antreibt und darauf besteht in Auschwitz zu bleiben, während er nach Oranienburg versetzt wird. Rudolf Höß kehrt mit dem Auftrag nach Auschwitz zurück, die Vernichtung von 600.000 ungarischen Juden in die Wege zu leiten. Der Auftrag wird schnell nach ihm Höß-Aktion benannt. Rudolf Höß wird morgens zur Arbeit verabschiedet, auf die er sich auf einem Pferd begibt. Er selbst erscheint eher ruhig und unscheinbar. Der pervers-akribische Technokrat des Staatsterrors wird vom Auschwitzüberlebenden und Friseur des Lagerkommandanten Jozéf Paczynski als „ganz normaler, ehrlicher, ruhiger und schweigsamer Mensch“ beschrieben, „der niemanden schlug“. Höß verfasst in seinem Büro eine Anweisung zum Schutz von Fliederbüschen auf dem KZ-Gelände „im Interesse der Gemeinschaft und zur Ausschmückung des Lagers“. Ab und zu muss er selbst kotzen oder lässt sich Sexsklavinnen im Keller zuführen.

Rudolf Höß wird von Christian Friedel als weicher Charakter gespielt und ähnelt tatsächlich äußerlich seiner gespielten Figur ein wenig. Zusammen mit Sandra Hüller als Ehefrau Hedwig meistern sie ihre schwierigen Rollen in einem nachgebauten Höß-Haus mit versteckten Kameras und lassen ihre Figuren Menschen ähneln, die sie aber nicht erklären.

Ausgezeichneter Film

Der Film des amerikanischen Regisseurs und Drehbuchautors Jonathan Glaser, der aus einer jüdischen Familie stammt, hat einen Oskar als bester internationaler Film erhalten und einen zweiten für den dissonanten Sound, der die vorgelogene Harmonie der Höß-Familie im Film konterkariert. Die Scheinwelt der Familie Höß wird nur durch zwei weitere Ebenen durchbrochen, die uns wohl darauf hinweisen sollen, was im Film nicht zu sehen ist und nur als Geisterfilm im Kopf der Zuschauer mitläuft, nämlich an einem Ort der Vernichtung und des Grauens zu sein. In verfremdeten Bildern sehen wir, wie eine Höß-Angestellte unter Lebensgefahr nachts Lebensmittel für KZ-Häftlinge an deren Arbeitsort außerhalb des Lagers versteckt und zum Schluss reale Angestellte der Gedenkstätte Auschwitz beim Saubermachen des Museums. Es ist kein Traum, den der Zuschauer gerade erlebt hat, sondern die Wirklichkeit.  Der Film lässt die Zuschauer nachdenklich und betroffen zurück. Vielleicht mit dem Gedanken, wie sehr Verdrängung angesichts des tausendfachen Mordens vor der Haustür möglich sein kann und vielleicht auch darüber, was wir heute alles verdrängen.

Ein Teil von uns

geschrieben von Axel Holz

15. Februar 2024

Uwe von Seltmanns Buch „Wir sind da! 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ist 2021 erschienen. Es wurde von einem Autor geschrieben, der sich selbstmit seiner Familiengeschichte und der Rolle seines Großvaters als SS-Mann im Warschauer Ghetto im Buch „Schweigen die Täter, reden die Enkel“ auseinandergesetzt hat – und mit dessen Vorstellung von der angeblichen Wertlosigkeit und Gefährlichkeit des Judentums, die bis heute nachhallt. Der Autor legt ein gut lesbares Werk vor, das den Reichtum des Judentums in Deutschland in Religion, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft über Jahrhunderte aufzeigt. Der Vorsitzende des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ erklärt in seinem Vorwort zum Buch, dass Jüdinnen und Juden im Verlaufe der Jahrhunderte dazu beigetragen haben, das Land aufzubauen und zum Blühen zu bringen. Dabei wird im Buch gelegentlich bei der Behandlung von Deutschland in den politischen Grenzen von 1914 übersehen, dass die Prägung der Deutschen durch das Judentum im deutschsprachigen Raum eben auch in Prag durch Franz Kafka, in Tschernowitz durch Rose Ausländer und Wien durch Sigmund Freud mit erfolgte.

Vielfalt jüdischen Lebens

Zweifellos ist über jüdisches Leben in Deutschland in der Gesellschaft nicht viel an aktivem Wissen bekannt. Von Salzmanns Buch kann mit seinem lexikonartigen Aufbau dazu beitragen, dass Leser schon mit einem Teil des Wissens aus diesem Buch zu Experten für jüdisches Leben in Deutschland werden können. Wichtig ist dabei, dass die Vielfalt jüdischer Einflüsse ebenso anschaulich dokumentiert wird wie die Abwendung von einer klischeehaften Vorstellung vom Judentum. Eine Ausgabe von Spiegel-Geschichte über „Jüdisches Leben in Deutschland“ erscheint zweifelhaft, wenn auf dem Deckblatt die Darstellung orthodoxer Ostjuden den Blick auf das Thema prägt, die bereits seit den zwanziger Jahren bis heute nur einen Bruchteil jüdischer Vielfalt repräsentieren. Vor allem befördert einer solcher Zugang zum Thema antisemitische Vorurteile, wie der Zentralrat der Juden kritisierte, um zu erfahren, dass eine solche Wirkung von den Machern nicht beabsichtigt worden sei.

Status einer Minderheit

Juden waren in Deutschland immer eine Minderheit. Vor der Machtübertragung an die Nazis lebten eine halbe Millionen Juden in Deutschland. Allein in New York lebten Mitte der zwanziger Jahre 1,6 Millionen und damit 40 Prozent der Einwohner. Vor der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten gab es in Westdeutschland noch 28.000, in der DDR ganze 500 in Gemeinden organisierte Jüdinnen und Juden. Erst durch den Zuzug von etwa 200.000 jüdischen Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion ist das jüdische Leben in Deutschland neu belebt aber auch deutlich anders geprägt worden als vorher. Etwa die Hälfte der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden ist in den jüdischen Gemeinden registriert. Als der jüdische Emigrant, Journalist beim britischen Daily Mirror und spätere Rabbiner Willam Wolff in den neunziger Jahren den Posten des Landesrabbiners in Mecklenburg-Vorpommern übernahm, lernte er erstmal russisch, um sich mit seinen Gemeindemitgliedern unterhalten zu können.

„Juden wurden verfolgt, weil sie anders waren; und sie waren anders, weil sie verfolgt wurden“, zitiert von Seltmann den Journalisten Reich-Ranicki. Das Buch beschreibt die jahrhundertlange Verfolgung der Juden einschließlich des heutigen Antisemitismus mit 2.000 erfassten antisemitischen Straftaten pro Jahr. Es stellt dies aber nicht in den Mittepunkt, sondern das vielfältige jüdische Leben über Jahrhunderte hinweg. Nach einer Standortbestimmung zur jüdischen Geschichte mit Blick auf Simon Dubnows 1929 vollendetes Standardwerk im ersten Kapitel folgt ein Kapitel zur „Gegenwartsbewältigung“ über verbreitete Unwissenheit, die Unvergangenheit der Vergangenheit und über jiddische Sprache und Kultur.

Was ist jüdisch?

In einem weiteren Kapitel porträtiert der Autor sieben prominente jüdische Persönlichkeiten der Neuzeit, darunter die Kantorin Svetlana Kundish, den Liedermacher Wolf Biermann und den Sänger der Band „Pankow“, André Herzberg. Herzberg stammt aus einer jüdisch kommunistischen Familie in der DDR. Er hat sich auf sein jüdisch sein zurückbesonnen und blickt in seinem autobiografischen Roman „Alle Nähe fern“ auf einen Staat zurück, der mit einer jüdischen Minderheit mehr als widersprüchlich umging, der Schweigen, Angst und Verdrängung selbst bei denen hervorrief, die sich bereits von der jüdischen Tradition verabschiedet hatten.

In weiteren zwei Kapiteln wird jüdisches Leben über Jahrhunderte in verschiedenen Teilen Europas nachgezeichnet und weiter von der Aufklärung bis heute beschrieben.  Darunter sind Lichtgestalten der Aufklärung, wie Moses Mendelssohn und Heinrich Heine. Viele dieser prominenten jüdischen Zeitgenossen kämpften um Gleichberechtigung, die Erlangung bürgerlicher Rechte, darunter auch die Jüdinnen Rahel Varnhagen von Ense, Henriette Merz, und Amalie Beer. Das Buch informiert über die Taufe von Juden, die damit den Weg sozialer Anerkennung und beruflicher Gleichstellung anstrebten, ebenso wie über Stadt- und Landjuden, über Juden deutscher Nation, über Jüdischsein in der Weimarer Republik und den Holocaust. Und nicht zuletzt berichtet das Buch über jüdisch sein heute, über den Schriftsteller Wladimir Kaminer, den Publizisten Richard Schneider, den Politiker Daniel Cohn-Bendit und über Tal Alon, die Gründerin einer hebräischsprachigen Zeitung in Berlin. Dieses Kapitel hätte im Buch noch ausführlicher sein können, denn Letzteres macht jüdisches Leben heute aus und ist vielen kaum bekannt.

Massendemonstrationen gegen die AfD in Deutschland

geschrieben von Ulrich Schneider

2. Februar 2024

Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt die FIR die aktuelle politische Entwicklung in der BRD, wo in den vergangenen Wochen eine breite zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegen die extreme Rechte zu erleben ist. Eine Presseveröffentlichung über ein Treffen von Funktionären der „Alternative für Deutschland“ (AfD), dem Frontmann der Identitären Bewegung in Österreich und anderen Vertretern rechtskonservativer Gruppen in einer Villa in Potsdam, auf dem über die Ausweisung von Millionen Menschen aus Deutschland fantasiert wurde, löste diesen Massenprotest aus.
Bis heute sind über zwei Millionen Menschen in allen Teilen der Bundesrepublik gegen die extreme Rechte, gegen die AfD und für eine weltoffene Gesellschaft auf die Straße gegangen. Die größten Kundgebungen fanden bislang in Berlin mit 350 000 Teilnehmenden, in München (laut den Veranstaltern) bis zu 250 000, in Düsseldorf mit 200.000, in Hamburg mit über 100 000 und in Bremen mit 70 000 Menschen statt. In Köln waren es mitten in der Woche 35 000, später noch einmal 70 000. Solche Massenaktionen fanden nicht nur in den Großstädten statt. Auch in den östlichen Bundesländern, in denen die AfD bei zum Teil 30% Zustimmung (laut Demoskopen) steht, kamen in Dresden, Erfurt, Freiberg, Halle, Leipzig, Magdeburg und selbst Pirna, wo ein AfD Oberbürgermeister gewählt worden war, viele Tausend zusammen. An diesem Wochenende sind weitere Großdemonstrationen geplant.
Schon einmal waren in der BRD viele tausend Menschen auf den Straßen gegen Rechts, als im Jahre 2000 der damalige Bundeskanzler Schröder zum „Aufstand der Anständigen“ rief, als es einen Brandanschlag gegen eine Synagoge in NRW gab. Doch diesmal folgen sie keinem Regierungsappell, auch wenn sich auf manchen Kundgebungen Regierungsvertreter zeigen. Es ist eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die die Menschen auf die Straße treibt. Organisationen, wie Gewerkschaften oder Parteien, die in der Vergangenheit zu solchen Massenaktionen mobilisierten, wurden von der Bewegung überrollt. Neue Akteure melden die Aktionen an, Medien berichten über die geplanten Aktionen und viele bislang nicht politisch engagierte Menschen sind auf der Straße. Auf den Kundgebungen sieht man selbst gebastelte Schilder mit Losungen, nur wenige Partei- und Organisationsfahnen. In Metropolen, wo es eine entwickelte politische Szene gibt, werden die bekannten Antifa-Transparente gezeigt. In vielen anderen Städten aber sieht man mehr Pappschilder oder kleinere Symbole gegen Rechts.
Erfreulich ist, dass es der herrschenden Politik bislang nicht gelingt, diesen Protesten ihren Stempel aufzudrücken, selbst wenn Bürgermeister und andere in der Landespolitik wichtige Persönlichkeiten als Rednerin oder Redner eingeladen wurden. So begrüßte Bundespräsident Steinmeier diese Massenbewegungen als bürgerschaftliches Engagement, warnte aber gleichzeitig vor „Radikalisierung“.
Tatsächlich wurde auf diesen Kundgebungen in manchen Redebeiträgen vollkommen zurecht auch die gegenwärtige Bundesregierung kritisiert, die mit ihrer Politik Mitverantwortung für den Aufstieg der extremen Rechten trägt. Es ist nicht nur die extreme Rechte, die von „Remigration“, also Vertreibung, spricht, sondern eine ganz große Koalition sorgt für eine Verschlechterung der Aufnahmebedingungen für Migranten und schafft auf europäischer Ebene gesetzliche Grundlagen, diese schnell wieder abschieben zu können. Kritisiert wurde die populistische Propaganda z.B. des CDU-Chefs Merz, der behauptete, Arztpraxen seien überfüllt, weil Geflüchtete sich dort mit Zahnersatz versorgen. Auch heißt es, man müsse die „Flut der Migranten“ stoppen, lehne die „Verunstaltung“ der Sprache durch das Gendern ab und wolle Arbeitslosen gerne das bisschen Bürgergeld kürzen – nicht anders als die AfD.
Interessant ist die Reaktion der Medien. Zum einen hilft die Berichterstattung über die Massendemonstrationen bei der Mobilisierung auch in abgelegenen Orten. Die Medien vermitteln Bilder, die die zivilgesellschaftliche Welle über das ganze Land trägt. Gleichzeitig erlebt man Versuche, die Aktionen aus der Mitte der Gesellschaft zu delegitimieren. Und es ist nicht nur die Springer-Presse, von der man es in Deutschland gewohnt ist, dass sie demokratische Bewegungen, Gewerkschaften und Antifaschismus als Feindbilder behandelt. Selbst etablierte Medien behaupten, dass der zivilgesellschaftliche Protest von „Klima-Chaoten“ und „Israel-Hassern“ unterwandert sei. Die Tatsache, dass in den Ansprachen nicht nur die AfD, sondern auch das Handeln der Regierenden kritisiert wurde, ist Anlass für solche Vorwürfe.
Die FIR begrüßt den gesellschaftlichen Protest gegen die extreme Rechte in Deutschland. Er ist eine gute Voraussetzung, die politische Stimmung der Akzeptanz der AfD zu ändern und damit die Gefahr des Vormarsches zu stoppen. Solche Proteste, die jüngst auch in Wien stattfanden, sind im Sinne des FIR-Appells zur Europawahl, gegen die extreme Rechte „auf internationaler Ebene bestehende Initiativen, soziale Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen zu vernetzen, um eine gemeinsame politische Stimme für Europa zu werden“.

VVN-BdA zum 27. Januar als Holocaustgedenktag und Gedenken an das Ende der Leningrad-Blockade

geschrieben von VVN-BdA

29. Januar 2024

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der
Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) erinnert
anlässlich des Holocaustgedenktages auch an die Blockade
von Leningrad:
Die VVN-BdA erinnert an diesem 27. Januar nicht nur an die
Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahre 1945,
sondern auch an den 80. Jahrestag der Befreiung der Stadt
Leningrad mit der Durchbrechung der Blockade durch die
sowjetische Armee am 27. Januar 1944. In den
Welteroberungsplänen des deutschen Faschismus nahm der Überfall
auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 einen besonderen Platz ein.
Es ging um die Rohstoffreserven der UdSSR und die industriellen
Kapazitäten im Westen der Sowjetunion. Im »Fall Barbarossa«
waren diese Ressourcen fest eingeplant, um einen Krieg gegen die
UdSSR überhaupt führen zu können. Das nach Osten vorrückende
Millionenheer sollte sich aus den Vorräten der örtlichen Bevölkerung
versorgen und damit den dort lebenden Menschen, die als
»slawische Untermenschen« betrachtet wurden, die
Lebensgrundlage nehmen. Zudem war es ein ideologisch
motivierter Vernichtungskrieg gegen den »jüdischbolschewistischen« Feind.
Ende August erreichten die faschistischen Heere Leningrad. Erobern
konnten sie die Stadt nicht. Am 8. September 1941 wurde der
Blockadering geschlossen. Damit war die Großstadt, in der damals
rund drei Millionen Menschen lebten, im Süden durch deutsche
Truppen und ihre Verbündeten, im Norden von finnischen Einheiten
blockiert. Nur über den im Osten gelegenen Ladogasee konnten
zeitweise und unter großen Gefahren Lebensmittel und andere
Versorgungsgüter in die Stadt gebracht werden. Die Blockade von
Leningrad und das Aushungern der Bewohnerinnen war Teil der verbrecherischen Kriegführung der Nazis in Osteuropa, die mit dem Begriff »Vernichtungskrieg« treffend charakterisiert wird. Vor über zwanzig Jahren sprach der Jenaer Historiker Jörg Ganzenmüller von einem »Genozid durch bloßes Nichtstun«. Tatsächlich starben mehr als eine Million Menschen während der Belagerung an Hunger und Mangelernährung. Dennoch haben die Menschen in Leningrad knapp drei Jahre der faschistischen Bestie widerstanden und ein sichtbares Zeichen gesetzt, dass die »unbesiegbare« Wehrmacht an ihre Grenzen stößt. Der Überlebenskampf der Einwohnerinnen und
der sowjetischen Armee, die im Winter die Versorgung der
Menschen über die zugefrorene Ostsee organisierte und die im
Januar 1944 den Blockadering sprengen konnte, sind unvergessen.
Ein eigenes skandalöses Kapitel ist der Umgang mit den Opfern des
faschistischen Vernichtungskrieges und ihren Angehörigen durch die
Bundesrepublik Deutschland. Seit Jahrzehnten lehnt die
Bundesregierung jegliche Zahlung individueller Entschädigungen an
nichtjüdische Bürger*innen der damaligen Sowjetunion bzw. des
heutigen Russlands grundsätzlich ab.
In einem offenen Brief an die Bundesregierung vom Herbst letzten
Jahres beklagen die letzten Überlebenden der Blockade:
»Mittlerweile sind wir weniger als sechzigtausend, alles Menschen
verschiedener Nationalitäten, die die Greuel der belagerten Stadt
überlebten.« Sie verurteilen die Weigerung Berlins, eine für
jüdische Überlebende zugesagte Entschädigung »auf alle heute
noch lebenden Blockadeopfer ohne Ansehen ihrer ethnischen
Zugehörigkeit auszuweiten«.

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