Vor 50 Jahren erschien Raul Hilbergs Buch „Die Vernichtung der europäischen Juden“. Der Fischer Verlag hat das Standardwerk 2023 erneut veröffentlicht.
Raul Hilberg entstammt einer jüdischen Wiener Familie, die vor den Nazis in die USA emigrieren musste. Als US-Soldat war er an der Befreiung des KZ Dachau beteiligt. Seitdem hat ihn das Thema der Judenvernichtung durch die Nazis nicht mehr losgelassen. Er entdeckte in München die Kisten mit der Privatbibliothek Hitlers und befragte deutsche Soldaten im Auftrag der Alliierten. Im Politikstudium recherchierte er weiter an den Originalquellen zum Holocaust, der damals noch nicht so hieß und für den sich kaum jemand interessierte, nicht in den USA, nicht in Deutschland und häufig auch nicht unter den überlebenden Opfern.
Dokumentar des Grauens
Das Buch ist heute mehr als ein Standardwerk, sondern die „Gesamtgeschichte des Holocaust“, wie es in der ersten deutschen Ausgabe heißt. Das Buch, an dem Raul Hilberg ein halbes Leben gearbeitet hat, ist geblieben und auf 1.472 Seiten gewachsen. Es analysiert und ordnet mit Präzision ein, emotionslos und ohne moralische Bewertung. Es greift auf Originalquellen zurück, von denen Hilberg viele neue Unterlagen entdeckte und bearbeitete. Es beschreibt den Mord an den europäischen Juden im Detail, das Vorgehen gegen die Juden durch die Nazis in den verschiedenen europäischen Ländern, aber auch den Widerstand von Helfern, Juden und Widerständlern. Es wird deutlich, wie perfide die Vernichtung der europäischen Juden organisiert wurde. Insbesondere in der Ukraine wurden die Juden durch eine Vereinbarung zwischen Wehrmacht und SS überrascht, die es ermöglichte, dass die Polizeitruppen unmittelbar nach der Einnahme der Städte und Dörfer durch die Wehrmacht zu tausenden vor Ort ermordet wurden. Manche Orte wurden bis zu fünfzehnmal durchsucht, um versteckte oder aus den Wäldern zurückgekehrte Juden aufzugreifen und zu ermorden. Raul Hilberg berichtet vom Antisemitismus in weiten Teilen von Europa, aber auch von der Hilfe durch Einheimische in Dänemark, Holland und Belgien bis nach Bialystok in Polen.
Werk der ganzen deutschen Gesellschaft
Der Massenmord an den Juden sei weder zentral geplant noch mittels eines eigenen Budgets finanziert worden, erläutert Hilberg-Biograf René Schlott. Dennoch sei die Vernichtungsmaschine nicht das Verbrechen weniger Täter, sondern das Werk der ganzen deutschen Gesellschaft. Hilsberg weist auf die Verwicklung der Führungseliten in Staat, Industrie und Wehrmacht hin. Er legt aber auch die Hingabe durchschnittlicher Bürokraten, Reichsbahner und Soldaten beim Vernichtungswerk offen. Viele teilten den Antisemitismus der Nazis, denunzierten Juden oder deren Helfer. Viele überhörten die Berichte über Morde und Massaker aus den KZs und von der Front. Die meisten wollten nach dem Krieg nichts davon gewusst haben. Hilberg beschreibt das System der Judenvernichtung detailliert von der Definition der als Juden Diskriminierten, über deren Erfassung, Konzentration durch Vertreibung, Gettoisierung und Zwangsarbeit bis zur Vernichtung in Vernichtungs- und Konzentrationslagern, in Gräben durch Genickschüsse, durch medizinische Experimente und Verhungern.
Veröffentlichung lange verhindert
Für seine umfangreiche Promotion über den Judenmord fand Hilberg 1961 einen kaum bekannten Verlag in Chicago. Auch in Deutschland interessierten sich nun Verlage für das Buch. Doch ein Gutachter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte empfahl 1964, das Buch nicht in Deutschland zu veröffentlichen. Das Buch sei nicht umfassend genug und es gäbe anstehende Veröffentlichungen des eigenen Hauses. Zahlreiche Wissenschaftler glaubten, dass Deutsche einen nüchternen Blick auf das Thema hätten und Juden zu emotional urteilten. Als 1980 der Beck-Verlag erneut beim Institut für Zeitgeschichte wegen einer Veröffentlichung anfragte, hielt das Institut das Buch für veraltet. Es erschien erst 1982 im Kleinverlag Olle & Wolter, 1990 dann in großer Auflage bei Fischer. Das Buch ist so wenig veraltet wie der Antisemitismus verschwunden ist. Es erscheint neu im richtigen Augenblick.