Vereint im Ressentiment
26. November 2024
Zum zwölften Mal untersuchen die Leipziger Autoritarismusstudien demokratische und demokratieverachtende Positionen, pluralistische und autoritäre Einstellungsmuster in Deutschland. Immer noch findet die überwiegende Mehrheit die Idee der Demokratie gut, mit 94,6 Prozent sogar mehr im Osten als im Westen mit 89,4 Prozent, aber sie verliert an Akzeptanz. Mit der Demokratie in der Verfassung sind bundesweit nur noch 70,9 Prozent zufrieden und mit der Alltagsdemokratie, wie sie in der Bundesrepublik funktioniert, ist nur noch eine Minderheit zufrieden – im Westen 42,3 und im Osten nur 29,7 Prozent. Subjektive Gründe für diese Bewertung sind die Unzufriedenheit mit Politikern, Parteien, Regierung und Bürokratie. Die Wahrnehmung einer Abfolge von Krisen von Finanzen, Corona, Migration, Energie, Inflation bis zum Krieg in der Ukraine haben die Skepsis gegenüber den Lösungskompetenzen der demokratischen Institutionen deutlich wachsen lassen. Gleichzeitig steigt das Gefühl unter der Bevölkerung, keinen Einfluss auf die Politik zu gewinnen, heißt es im Vorwort der neuen Autoritarismusstudie. Die Demokratie steht unter Druck, wobei sich der Wunsch nach einer starken Partei Bahn bricht. Die tatsächliche Legitimität der Demokratie erweise sich zunehmend als fragil und unter der Bevölkerung wenig eindeutig verbreitet, konstatieren die Autoren im Kapitel zur politischen Kultur. Die fragilen Demokraten und Autokraten stehen den soliden Demokraten nahezu ebenbürtig gegenüber. Die Demokratie könne sich demnach nicht mehr auf ihre Bürger verlassen, bewertet die Studie. Die Auseinandersetzung finde nicht nur um die Gestaltung der Gesellschaft, um politische Präferenzen und die Qualität politischer Entscheidungen statt. Der Streit entbrenne vielmehr zunehmend um das politische System.
Ursachenforschung
Die allgemeine Unzufriedenheit mit der Demokratie präsentiert sich in den Augen der Autoren im Kontext mangelhafter Legitimitätsgefühle, einer schlechten Beurteilung der wirtschaftlichen Lage, dem Fehlen politischer Selbstwirksamkeit und von Zukunftsängsten als besonders groß. Ängste bestehen insbesondere vor weiterer Migration, obwohl das Wachstum der SV-pflichtig Beschäftigten in den Jahren von 2010 bis 2023 um 24 Prozent[1] allein durch Zuwanderung um zusätzlich 3,4 Millionen SV-Pflichtige erfolgte und Menschen ohne deutschen Pass nach einer Studie der Betelmannstiftung[2] in ihrer Bevölkerungsgruppe jährlich 22 Milliarden Überschuss in den Sozialsystemen erzeugen. Unzufriedenheit mit der Demokratie stützt sich darüber hinaus auf Politik- und Politikerverdrossenheit und die empfundene mangelnde Möglichkeit der direkten Einflussnahme. In manchen Fällen ist die Unzufriedenheit mit der Demokratie, rechtsextrem gewandt, an völkische Forderungen gekoppelt.
Vorurteile nehmen zu
Der Bevölkerungsanteil mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild ist gesunken, während diskriminierende Positionen bundesweit hoch ausgeprägt sind und in den westlichen Bundesländern sogar zunehmen, darunter Ausländerfeindlichkeit, Chauvinismus, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit. Im Osten bleibt die Ausländerfeindlichkeit auf hohem Niveau – mit 44,3 Prozent manifest verankert und bei weiteren 29,7 Prozent latent ausgeprägt. Dort bestimmt tradierter Antisemitismus die Einstellung von 20,5 Prozent der Bevölkerung. Antisemitische Vorstellungen bestehen im Osten überdurchschnittlich als Ressentiments gegenüber Israel und als postkolonialer Antisemitismus, bei dem es im nahen Osten im Kern um einen Konflikt zwischen weißem Kolonialismus und unterdrückten Minderheiten gehe. Auch haben im Osten Antifeminismus und Sexismus zugenommen. Antisemitismus droht bundesweit über politische Lager hinweg zur Brückenideologie zu werden.
Für den Wahlerfolg der AfD ist Ethnozentrismus wahlentscheidend, wobei Ausländerfeindlichkeit als Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus fungiert. Die Studie bestätigt in einem besonderen Kapitel, dass Antifeminismus und Antisemitismus eine autoritär motivierte Verbindung eingehen. Dabei spielt manifeste Transfeindlichkeit in allen gesellschaftlichen Gruppen bei 53 Prozent der Ostdeutschen eine besonders negative Rolle im Verhältnis zu 36 Prozent der Westdeutschen. Die Rückkehr zu klassischen Rollenbildern der Geschlechter ist bundesweit feststellbar, wirkt aber im Osten mit seiner höheren Frauenerwerbstätigkeit als ein neuer Trend. Muslimfeindlichkeit verweilt auf hohem Niveau. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Ost und West empfinden sich durch Muslime manchmal als Fremde im eigenen Land. Ähnlich sieht es mit Vorurteilen gegenüber Sinti und Roma aus. Vierzig Prozent der 2.504 repräsentativ ausgewählten Studienteilnehmenden meinen, Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten entfernt werden.
Die gemeinsame Autoritarismusstudie der Otto-Brenner- und der Heinrich-Böll-Stiftung schließt mit einem hoffnungsvollen Kapitel zur Selbstverortung jüdischer Aktivisten in Deutschland und zu den Protesten gegen Rechtsextremismus 2024. Leider wurde dieser Teil in der PDF-Version auf der Homepage ausgespart.
[1] Beschäftigungsstatistik – Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Arbeitsort – Statistisches Bundesamt, 30.06.2023
[2] Sozialstaat profitiert von Zuwanderung, Bertelsmann-Stiftung 2014, Ausländer haben den Sozialstaat 2012 um 22 Milliarden Euro entlastet – 3.300 Euro pro Kopf. Noch stärker profitieren könnte Deutschland, wenn es mehr in Bildung investiert und auf qualifizierte Zuwanderung setzt.