Worauf wir nicht stolz sein können

geschrieben von Axel Holz

6. Februar 2019

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Zum 70. Geburtstag der Bundesrepublik legt der ehemalige Zeit-Redakteur und Kulturchef beim „Spiegel“ Willi Winkler sein Buch „Das braune Netz“ vor. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde, heißt es im Untertitel. Junge Historiker betonen vor allem die gelungene Durchsetzung der Demokratie. Dass es oftmals eine fast bruchlose Kontinuität von hohen Funktionsträgern im NS-Regime und in der Adenauer-Zeit gab, ist vielen mittlerweile nicht mehr bekannt. Das „Braunbuch“ hatte viele dieser Kontinuitäten schon in den sechziger Jahren aufgezeigt. Es wurde seinerzeit im Westen als DDR-Propaganda abgetan. Generationen von Ostschülern hatten im Schulunterricht gelernt, dass alte Nazis im Westen in Politik, Wirtschaft, Justiz, Presse und Bildung zurückgekehrt waren. Wie das konkret aussah, konnte sich aber kaum jemand vorstellen. Willi Winkler hat das ganze Ausmaß dieser gern vergessenen Schattenseite der westdeutschen Demokratiegeschichte bildhaft aufgezeigt und das braune Netz der Nazis wieder an Tageslicht gerückt. Nazis stützten sich in gesellschaftlich verantwortlichen Positionen gegenseitig, verdrängten demokratische Kräfte rückgekehrter Emigranten, Wiederständler und aus innerer Emigration Erwachter massenhaft aus den Institutionen der westdeutschen Gesellschaft, um eine Fortsetzung ihrer Ideologie unter dem Label des Antikommunismus zu praktizieren. So fällten Kriegsgerichtsräte wieder Urteile, regimetreue Professoren lehrten wieder und Journalisten aus früheren Propagandakompanien schrieben wieder. Der junge demokratisch ausgerichtete Staat gründete seinen Erfolg auf einen moralischen Widerspruch. Er wurde von den Feinden der Demokratie mit aufgebaut, kommentiert der Verlag Rowohlt sein Buch.

Der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, hatte 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Bundeskanzler Konrad Adenauer, der ein Opfer der Nazis war, plädierte dafür, mit der „Nazi-Riecherei“ Schluss zu machen – wie übrigens auch SPD-Chef Kurt Schuhmacher. Gleichzeitig regierte Adenauer autoritär und beschwerte sich laufend über die Angriffe der Presse auf ihn. Kanzleramtschef Globke hatte das Handbuch für die Judenvernichtung mit verfasst und kommentiert. Er sagte aber auch gegen Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßen-Prozess aus und trug damit zu seiner Verurteilung ebenso bei, wie er gegen den Widerstand von FDP und CDU Entschädigungszahlungen an Israel mit durchsetzte. Er verkörpert die Ambivalenz der verstrickten Akteure im neuen, alten Establishment.

Für einen Staatsstreich hatte sich das braune Netz zum letzten Mal in der Naumann-Verschwörung 1953 versucht, indem es ehemalige Gauleiter versammelte und die FDP unterwanderte. Im Wesentlichen hatte die größte Fraktion im Bundestag, die der ehemaligen NSdAP-Mitglieder, längst begonnen, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Die Opportunisten blieben unter sich. Entscheidend war, dass das alte Feindbild vom Kommunismus noch funktionierte. So war es auch nicht überraschend, dass Kanzler Adenauer in seinen Wahlkämpfen gegen die SPD mehrfach vor dem Untergang des Abendlandes warnte. Als Gefangener der Alliierten wäre der spätere Generalinspekteur der Bundeswehr gern sogleich mit den Alliierten gegen Russland ins Feld gezogen. Das funktionierte nicht, aber das Feindbild blieb –  nicht zuletzt durch einen BND unter dem ehemaligen Nazigeneral Gehlen, der mit alten Nazis ausgestattet die Demokratie behinderte. Mit der Mär von der kommunistischen „Roten Kapelle“, die mit kaputten Funkgeräten und erfundenen 500 Funksprüchen die Kriegswende mit bewirkt haben soll, konstruierte er ein Weiterbestehen der „Roten Kapelle“ mit angeblich über 2.000 Mitgliedern in der Bundesrepublik und dem Schriftsteller Günter Weißenborn an der Spitze. Wegen seiner Ostkontakte wurde einer der erfolgreichsten Autoren von Theaterstücken und Dokumentationen als SED-Mitglied und KGB-Agent denunziert. In seinem biografischen Film „Der Ruf“ kehrt Fritz Kortner 1949 nach Deutschland auf seinen Lehrstuhl zurück, um zu erfahren, dass das NS-Denken fortherrscht und niemand einen Emigranten haben will.

Winkler gelingt es in seinem Buch, mit aussagekräftigen Zitaten und Quellen zu zeigen, wie das braune Netzt funktioniert hat und wie seine wesentlichen Strukturen ausgesehen haben. Typische Akteure, wie der ehemalige SS-Mann und spätere Literaturpapst Holthusen, werden in ihrem opportunistischen Verhalten vorgeführt. 1959 weigerte sich Mascha Kaleko, den Fontanepreis der Berliner Akademie anzunehmen, weil Holthusen der Jury angehörte. Paul Celan zog 1961 seine Zusage zurück, sich in die Berliner Akademie aufnehmen zu lassen, weil er nicht mit Holthusen an deren Sitzung teilnehmen wollte. Wer blieb, war Holthusen.

Den Weg für den Fortbestand des braunen Netzes ebnete das Straffreiheitsgesetz, das am 9. Dezember  1949 fast einmütig im Bundestag und mit dem Segen der Hohen alliierten Kommissare verabschiedet wurde. Der verurteilte SS-Standartenführer Engelmann, der einen italienischen Zwangsarbeiter erschießen ließ, weil dieser drohte, seine Aufseher den näher rückenden Alliierten zu melden, wurde mit dem neuen Gesetz begnadigt. Am 1. April 1953 trat Artikel 131 des Grundgesetzes in Kraft, nach dem NS-Beamte in den öffentlichen Dienst zurückkehren konnten – auch jene, die bisher wegen ihrer NS-Verstrickung vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen waren. Das Recht kannte keine Nazis mehr, sondern nur noch Deutsche, kommentiert der Buchautor.

Die Weiterbeschäftigung der Nazi-Experten zum Aufbau einer neuen Ordnung und Bürokratie sei trotz allem unvermeidbar gewesen, zitiert Deutschlandfunk Kultur den Autor. Ist das tatsächlich so? Musste man Nazi-Täter amnestieren und Nazi-Beamte fördern? War es undenkbar, in Schnellkursen Unbelastete, Emigranten und Widerständler zu Richtern und Neulehrern auszubilden, wie dies im Osten üblich war. Darüber schweigt das ansonsten verdienstvolle Buch.

Rede von Dr. Axel Holz zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 26. Januar 2019 in Waren an der Müritz

geschrieben von Axel Holz

26. Januar 2019

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Wir gedenken heute in Waren traditionell der Opfer des NS-Regimes. Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar ist in Deutschland seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag. Er ist derTag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und der beiden anderen Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs.  Im Jahr 2005 wurde der 27. Januar von den Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt.

Das Gedenken an die NS-Opfer findet in diesen Tagen in vielen Orten in Mecklenburg-Vorpommern statt, z.B. in Schwerin, in Neustrelitz, in Stralsund, in Waren, in Gadebusch, in Stavenhagen, in  Alt Rehse, dem Ort der Euthanasie-Vorbereitung der Ärzte,  in den KZ-Gedenkstätten Wöbbelin und in der Todemarsch-Gedenkstätte Belower Wald.

Wir gedenken Millionen Nazi-Opfer des NS-Regimes. Darunter sind 6 Millionen Juden aus ganz Europa, weitere Häftlinge unterschiedlicher europäischer Länder, Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, politische Gegner unterschiedlicher politischer Ausrichtung von Kommunisten über Sozialdemokraten und Gewerkschaftern bis zu Liberalen und Christen, Anhänger der Bekennenden Kirche,  sozial Unangepasste und nicht zuletzt etwa 12 Millionen Zwangsarbeiter, von denen Millionen umkamen.

Die Erinnerung an die Naziopfer und die Nazigreuel in den Vernichtungslagern in Auschwitz, Sobibor, Belcek und Treblinka, an die deutschen Massenerschießungen von Millionen Zivilisten in der Sowjetunion und im Baltikum und an den Eroberungs- und Vernichtungskrieg der Nazis ist heute umso wichtiger, weil einige konservative und undemokratische, rassistische und nationalistische Kräfte diese Verbrechen gern relativieren. Weil sie erneut antisemitische Vorurteile schüren, den Holocaust leugnen oder solche Positionen unterstützen. Stellvertretend dafür steht der Ausspruch des AfD-Politikers Gauland, der die Nazi-Zeit als Vogelschiss in der Geschichte relativierte oder die Position des AfD-Politikers Höcke, der im Holocaustdenkmal ein Denkmal der Schande sieht und eine gedenkpolitische Wende im 180 Grad fordert.

Die Qualität und Ausrichtung der gedenkpolitischen Arbeit sollte erhalten werden. In den letzten Jahrzehnten ist es gelungen, Defizite in der gedenkpolitischen Arbeit in Ost und West aufzuarbeiten und aller Opfergruppen des NS-Regimes angemessen zu gedenken. Insbesondere die Zeitzeugenarbeit wurde intensiviert und die Bildungsarbeit zu Holocaust, Nazi-Opfern und Naziregime in der Schule und in den Gedenkstätten verbessert. Jahrelang waren zuvor einige Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle und sozial Unangepasste vernachlässigt oder übersehen worden. Über Jahrzehnte wurde Homosexuelle weiter kriminalisiert und werden erst in jüngster Zeit für erlittenes Unrecht entschädigt.

Deutschland wird international für seine offene Gedenkarbeit bewundert, während in Finnland scheinbar niemand Probleme zu haben scheint, dass derzeit auf der grünen Woche ein finnischer Bierbrauer zugleich Vorsitzender eines SS-Veteranenvereins ist und im Baltikum SS-Veteranen öffentlich unter staatlichem Schutz demonstrieren können. Ein Rechtsruck findet auch in Deutschland und ganz Europa statt. Demgegenüber wird in Schule, Radio, Fernsehen, Büchern und Zeitschriften das Gedenken an die Nazizeit in Deutschland aufrechterhalten. Darauf können wir stolz sein.

Auch die KZ-Gedenkstätten leisten eine wichtige Arbeit, um sich mit ihrer jugendgerechten Arbeit immer wieder neu zu erfinden und nicht in erstarrte Gedenkrituale zu verfallen.

Erinnerung an die NS-Zeit heißt heute, sich auch an die Defizite dieser Erinnerungsarbeit zu erinnern. Gerade ist das Buch „Das Braune Netz“ von Willi Winkler erschienen. Es zeigt, dass in den 50er Jahren, unterstützt durch eine Amnestie, tausende Nazis in Westdeutschland in den Beamtenapparat zurückkehrten und sich in Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft, Justiz, Bildung und Presse wiederfanden. Die demokratische Erneuerung wurde damit zumindest verzögert, kommentiert der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, diese Entwicklung.

Jahrzehntelang wurde der Opfer nicht gedacht, bevor in den 60er Jahren nach den Auschwitzprozessen eine gesellschaftliche Diskussion über die Nazizeit und die Mitverantwortung seiner Bürger einsetzte, bevor mit dem Film „Holocaust“ im Westen Millionen Menschen begannen, sich kritisch mit der Nazi-Geschichte auseinanderzusetzen. Im Osten hatte die Nazi-Aufarbeitung früher begonnen, war vielfach in Ritualen erstarrt, ist aber u.a. mit dem Schul-Buch und dem Film „Nackt unter Wölfen“ tief im Gedächtnis der Bürger bis heute verankert. Die Heraushebung einiger Opfergruppen und Vernachlässigung anderer Gruppen war ein Problem in Ost und West und wurde erst in den 90er Jahren überwunden.

Der Nazi-Opfer gedenken bedeutet heute, nicht nur an die Opfer, sondern auch an die Bedingungen zu erinnern, die den Nazismus ermöglicht haben. Vergessen wir nicht, dass die Nazis nicht durch einen Staatsstreich sondern durch Wahlen an die Macht gekommen sind. Zum Verständnis des Nazismus gehört es auch, den Prozess seiner Entstehung zu begreifen  –  von der Ideologie über die Bewegung bis zum autoritären faschistischen Staat. Die fehlende Auseinandersetzung der jungen Republik mit Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus und die Stärke nationalistischer Kräfte in Politik und Wirtschaft hat diese Entwicklung ebenso begünstigt wie der Kampf der politisierten Arbeiterbewegung gegeneinander.

Was damals geschah, könne immer wieder geschehen, kommentiert die Holocaustüberlebende Anita Lasker-Walfisch die Nazizeit. Damit das nicht passiert, müssen wir aktiv werden, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus entschieden entgegentreten.

Ich finde es wichtig und richtig, dass die demokratischen Parlamentarier im bayerischen Landtag der Rede der Vorsitzenden der israelitischen Kultusgemeinde in München, Charlotte Knobloch, geschlossen in dieser Woche Beifall gespendet haben. Sie hatte zuvor die AfD als eine Partei bezeichnet, die die NS-Verbrechen verharmlose, mit Rechtsradikalen eng zusammenarbeite und nicht auf dem Boden der Verfassung stehe. Dies war ein wichtiges Zeichen, um den Anfängen zu wehren – ebenso wie der Widerstand von Hundertausenden gegen Rassismus im vergangenen Jahr bei Demonstrationen in ganz Deutschland. Das sind die richtigen Schlussfolgerungen aus unserer Geschichte. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

 

Ausstellung „Keine Alternative!“ – Eröffnungsrede von Axel Holz in Rostock

geschrieben von Axel Holz

14. Januar 2019

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Ich begrüße Sie zur Eröffnung der Ausstellung „Keine Alternative! Eine kritische Auseinandersetzung mit der AfD“ hier in Rostock. Vielen Dank für das Grußwort von Prof. Wolfgang Methling. Diese Ausstellung der VVN-BdA ist nun ein Jahr alt und hat in der novellierten Version einer älteren Ausstellung über die AfD den Rechtsruck in der AfD verarbeitet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein kürzliches  Interview der Süddeutschen Zeitung mit dem ehemaligen Sternreporter Niklas Franck, der sich kritisch mit seinem im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilten Vater auseinandersetzt, dem deutschen Generalgouverneur im besetzten Polen, Hans Frank. Niklas Frank hatte sich lange geweigert, die AfD mit den Nazis zu vergleichen.  Nach Äußerungen wie der vom Bundestagsmitglied Markus Frohnmaier, der auf einer Demonstration in Erfurt  davon sprach aufzuräumen und auszumisten, wenn die AfD kommt, sieht er das anders. Das sei absolut sein Vater, mittlerweile können man die AfD durchaus mit den Nazis vergleichen. Er meint damit sicher, dass man Ähnlichkeiten der AfD zu den Nazis nicht mehr übersehen kann. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an einen Ausspruch Göbels, dass die Demokraten selbst dumm  genug seien, ihnen die parlamentarische Freiheit zu geben, die Demokratie selbst abzuschaffen. Eben dies ist eine der Gefahren, die von der AfD ausgehen.

Die AfD ist mittlerweile das Sprachrohr der neuen Rechten in Deutschland, der Kern der rechtspopulistischen und neofaschistischen Akteure in unserem Land. Sie ist mit Gruppen und Personen der neofaschistischen Szene eng verbandelt, auch wenn sich vereinzelt AfD-Funktionäre und AfD-Parlamentarier von neonazistischen Helfern distanzieren, um nicht vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden. Fakt bleibt: der Einzug der AfD in alle Landtage und den Bundestag war das beste Arbeitsbeschaffungsprogramm für die nationalistischen und rassistischen Wortführer und Mitläufer der neune Rechten in der Geschichte der Bundesrepublik. Die AfD teilt mit ihrem programmatischen Aussagen, Anträgen in Landtagen und im Bundestag sowie in den Kommunen das gesamte inhaltliche Repertoire der neuen Rechten. Sie ist nicht nur ausländerfeindlich und rassistisch und plädiert für eine Einschränkung der Religionsfreiheit, sondern sie greift auch weitere Grundrechte der Verfassung systematisch an. Mit der Zuwendung zur sozialen Frage auf ihren geplanten diesjährigen Parteitagen werden die im Programm angedeuteten antisozialen Inhalte vertieft werden. Steuervergünstigungen für Reiche, neoliberale Privatisierungsvorschläge für die Sozialsysteme und Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechte – das sind die antisozialen Kernpunkte ihres Programms, die in Zukunft auf ihre Präzisierung warten.

Die AfD greift mit ihren rassistischen Aussagen nicht nur Migranten, Einwanderer und Geflüchtete an. Sie trifft mit neoliberalen Referenzen besonders die Schwachen in der Gesellschaft. Deshalb kann die Antwort auf die Angriffe der AfD nur Solidarität und der Schutz der Grundrechte sein. Dies ist eine Aufgabe für alle Demokraten über Parteigrenzen hinweg. Denn Ziel der AfD ist es, die demokratischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte im Bereich der Geschlechtergleichstellung, der freien sexuellen Orientierung, der Anerkennung unterschiedlicher familiärer Lebensentwürfe, der Arbeitnehmerrechte und der Sozialstaatsrechte zu revidieren und das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wie sie das macht, auf welche Verbündete und Inhalte in der rechten Szene sie dabei zurückgreift, das zeigt diese Ausstellung sehr anschaulich. Viel Interesse beim Rundgang durch die Ausstellung und empfehlen Sie unsere Ausstellung weiter.

„Was damals Recht war…“ – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht

geschrieben von Dokumentationszentrum Schwerin

20. Dezember 2018

Erst im Mai 2002 hob der Deutsche Bundestag die meisten Urteile der Wehrmachtjustiz des Zweiten Weltkrieges auf. Noch bis zu diesem Zeitpunkt galten die Verurteilten, Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“ als vorbestraft.

Die Wanderausstellung „Was damals Recht war …“ – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht informiert über Unrecht und Willkür der NS-Militärjustiz. Sie erinnert an etwa 20.000 Soldaten und Zivilisten unterschiedlicher Nationen, die durch Unrechtsurteile der deutschen Wehrmachtgerichte ihr Leben verloren. Im Zentrum der Präsentation stehen Fallgeschichten von Deserteuren, „Wehrkraftzersetzern“ und „Kriegsverrätern“. Auch Biografien von Angehörigen des Widerstandes in besetzten europäischen Ländern werden auf Informationstafeln dargestellt. Mit Hilfe von verschiedenen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der deutschen Militärjustiz wird Besuchern ein umfassendes Bild von den willkürlichen Entscheidungen der Wehrmachtgerichte vermittelt.

Die Wanderausstellung wurde vom Beirat der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas initiiert und in Kooperation mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt /Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale), der Bundeszentrale für Politische Bildung und der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V. erarbeitet.

Die Ausstellung kann vom 21. November 2018 bis 29. Januar 2019 im Schweriner Dokumentationszentrum Demmlerplatz entweder während der Öffnungszeiten (Dienstag bis Freitag von 12.30 – 16.00 Uhr) oder nach vorheriger Absprache gern besichtigt werden.

470 Neonazis per Haftbefehl gesucht

18. Dezember 2018

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Die Polizei fahndet bundesweit nach 467 Rechtsextremisten, die per Haftbefehl gesucht werden. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken-Fraktion hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Die Zahl hat wieder leicht zugenommen: Im Frühjahr (Ende März) waren 457 gesuchte Neonazis untergetaucht.

108 davon wurden wegen eines politischen Delikts gesucht, 99 wegen eines oder mehrerer Gewaltdelikte. Mehr als jeder vierte Gesuchten galt als gewalttätig. Da gegen Personen auch mehrere Haftbefehle existieren können, registrierte die Polizei insgesamt 605 Fahndungen. Die Behörden gehen bei den Gesuchten davon aus, dass sie künftig ähnliche Straftaten begehen, etwa bei rechten Aufmärschen, Musikkonzerten oder rechten Aktionen.

In den vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der gesuchten Neonazis nahezu verdoppelt: Von 253 Personen im März 2014 auf jetzt knapp 470. Als ein Grund dafür gilt die Flüchtlingskrise, durch die die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Taten wie Anschläge auf Asylbewerberheime nach oben geschnellt war. Im März 2018 gab es zwar erstmals einen leichten Rückgang, doch nun wieder einen Anstieg.

Gedenkstätten rufen auf zur Verteidigung der Demokratie

geschrieben von 7. Bundesweite Gedenkstättenkonferenz

14. Dezember 2018

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Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer
Gewalt nehmen als Orte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit
einer verbrecherischen Vergangenheit eine wichtige Bildungsaufgabe für
die Gegenwart wahr. Ihre Arbeit folgt der aus den Erfahrungen des
Nationalsozialismus gewonnenen Verpflichtung unserer Verfassung: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art.1GG).

Lernen aus der Geschichte der NS-Verbrechen heißt auch Warnzeichen
rechtzeitig zu erkennen, wenn eine nachhaltige Schwächung unserer
offenen Gesellschaft droht. Wir wissen aus der europäischen Geschichte
des 20. Jahrhunderts, dass Demokratien mit Standards wie dem
Grundgesetz, den europäisch und international verankerten
Menschenrechten, Minderheitenschutz, Gleichheit aller Menschen vor dem
Recht, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung mühsam erkämpft wurden
und fortdauernd geschützt und ausgestaltet werden müssen.

Immer offener etablieren sich in der Gesellschaft Haltungen, Meinungen
und Sprechgewohnheiten, die eine Abkehr von den grundlegenden Lehren aus
der NS-Vergangenheit befürchten lassen. Wir stellen mit Sorge fest:

* ein Erstarken rechtspopulistischer und autoritär-nationalistischer
Bewegungen und Parteien,
* eine verbreitete Abwehr gegenüber Menschen in Not sowie die
Infragestellung und Aufweichung des Rechts auf Asyl,
* Angriffe auf Grund- und Menschenrechte,
* die Zunahme von Rassismus, Antisemitismus und anderen Formen
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit,
* eine damit einhergehende Abwertung von Demokratie und Vielfalt.

Hinzu kommt ein öffentlich artikulierter Geschichtsrevisionismus, der
die Bedeutung des Erinnerns an die Verbrechen des Nationalsozialismus
als grundlegende Orientierung der deutschen Gesellschaft in der
Gegenwart angreift und durch ein nationalistisches Selbstbild ersetzen
möchte.

Diesen aktuellen Entwicklungen treten wir mit unserer täglichen Arbeit
in der historisch-politischen Bildung entgegen. Aber sie erfordern
darüber hinaus politisches und bürgerschaftliches Handeln. Wir
appellieren daher an die Akteure in Politik und Gesellschaft, das Wissen
um die historischen Erfahrungen mit ausgrenzenden Gesellschaften wie dem
Nationalsozialismus für die Gegenwart zu bewahren und sich für die
Verteidigung der universellen Geltung von Grund- und Menschenrechten
einzusetzen.

Verabschiedet von der 7. Bundesweiten Gedenkstättenkonferenz am
13.12.2018

Flucht ins Autoritäre

geschrieben von Axel Holz

6. Dezember 2018

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Die Studie „Flucht ins Autoritäre“ des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig bestätigt eine Zunahme der Ausländerfeindlichkeit und der Abwertung von Muslimen. Die Studie unter der Leitung von Oliver Decker und Elmar Brähmer basiert auf Umfragen unter 2.419 repräsentativen Interviewpartnern mit deutscher Staatsbürgerschaft. Sie ist die Fortsetzung der sogenannten Leipziger Mitte-Studien und firmiert jetzt als „Leipziger Autoritarismus-Studie 2018“. Eine Stärke der Studie ist ihre Entwicklungsdynamik durch Vergleiche zwischen den Untersuchungen von 2002 bis 2018.

Die Studie entfernt sich vom Mitte-Begriff der Vergangenheit und legt ihren Schwerpunkt diesmal auf die autoritäre Dynamik in der Gesellschaft. Sie wendet sich nun der Analyse des Phänomens Autorität zu. Die Entlassung der Menschen aus den sozialen Sicherungssystemen und ihre Flexibilisierung zum unternehmerischen Selbst liefere die Menschen dem Markt aus, stärke die Sorge um ihren sozialen Status und mache sie für autoritäre Verführungen empfänglich.  Diese These, lasse aber zweierlei aus dem Blick: die historische Tiefe der Komplizenschaft, die die Menschen mit der Herrschaft eingehen und unter deren Druck sie gleichzeitig leiden und die autoritäre Dynamik der Gesellschaft, die das Einverständnis vieler Bürger habe. Diese Dynamik bringe rechtsextreme Einstellungen hervor, so die These der Studie. Abwertungsbereitschaft und autoritäre Aggressionen seien in der deutschen Bevölkerung stark verbreitet.  Eine Drittel der Bevölkerung erfülle sich ein bestehendes Kontrollverlangen mit Verschwörungstheorien, 25 bis 40 Prozent fehle das Verständnis für die Interessen anderer, wobei der Wunsch nach autoritärer Führung im Osten besonders hoch sei. Der AfD sei es gelungen, das schon lange vorhandene Potential mit geschlossenem rechtsextremem Weltbild für sich zu nutzen.

Die Studie widmet sich zentral der Zunahme ausländerfeindlicher Positionen in der Gesellschaft. 24,1 Prozent der Bevölkerung zeigten demnach aktuelle ausländerfeindliche Einstellungen, 2014 nur 20,4 Prozent. Im Osten steigt dieser Wert von 22,7 Prozent in 2014 auf 30,9 Prozent in 2018 deutlich stärker an. Diese Werte werden methodisch gleichbleibend in der Leipziger Studie an den Behauptungen festgemacht, dass Ausländer den Sozialstaat ausnutzten, bei knapper werdenden Arbeitsplätzen zurückgeschickt werden sollten und die Bundesrepublik gefährlich überfremdet sei. Die Überfremdungsthese teilen mittlerweile manifest 44,6 Prozent der ostdeutschen Befragten und 33,6 der westdeutschen.

Einen weiteren Schwerpunkt der Studie bildet die Abbildung von Muslimfeindlichkeit in der Gesellschaft. Der Aussage, dass Muslimen die Zuwanderung untersagt werden sollte, stimmten im Westen mit 35,5 Prozent in 2014 und 42,2 Prozent in 2018 zu. Im Osten lag dieser Wert in 2018 bei 50,7 Prozent, war aber gegenüber 2014 mit 53,8 Prozent wieder leicht gesunken. Noch höher liegen die Vorurteilswerte bezüglich der These, dass sich Deutsche durch anwesende Muslime wie Fremde im eigenen Land fühlten. Der gesamtdeutsche Wert ist hierbei von 43 Prozent in 2014 auf 55,8 Prozent in 2018 gestiegen. Dies ist auch deshalb verwunderlich, weil die Einwanderung nach 2015 drastisch zurückgegangen sei, aber die Zuwanderung vom Muslima und Muslimen unvermindert als gesellschaftliche Veränderung wahrgenommen werde, so die Autoren.

Die Leipziger Studie untersucht die hohe Prävalenz von Antisemitismus in Deutschland. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung stimmten antisemitischen Aussagen voll zu, bis zu 50 Prozent bei Umweg-Kommunikation. Bei teilweiser Zustimmung zu antisemitischen Aussagen liegen antisemitische Vorurteile deutlich höher: 25 Prozent im Westen und 40 Prozent im Osten. Unter Berücksichtigung der Umweg-Kommunikation liegen latente antisemitische Vorurteile in Ost und West mit bis zu 80 Prozent deutlich höher. Hieran wird deutlich, dass antisemitische Stereotype in versteckter Anwendung in großen Teilen der Bevölkerung latent abrufbereit sind.

Die Leipziger Studie widmet sich seit 2002 weiteren Indikatoren rechtsextremer Einstellungen.  Die Anfälligkeit gegenüber sozialdarwinistischen Vorurteilen hats sich deutschlandweit von 2002 bis 2018 auf 3,2 Prozent fast halbiert. Im Osten schwankt diese Anfälligkeit und liegt mit 4,6 Prozent höher. Bundesweit sinkt die Anfälligkeit für die Verharmlosung der NS-Diktatur seit 2002 kontinuierlich, ist im Osten aber mit 8,5 Prozent gegenüber dem Westen mit 5,4 Prozent deutlich stärker ausgeprägt. Chauvinistische Positionen bewegen sich seit 16 Jahren schwankend auf einem aktuellen Niveau von 19 Prozent der Bevölkerung. All diese Einstellungspotentiale sind durch geschickte rechtspopulistische Angebote politikwirksam abtrufbar.

Die Autoren der Studie resümieren, dass die bundesdeutsche Gesellschaft von rechtsextremen Positionen durchzogen sei. Ein großer Teil der Gesellschaft bekenne sich nicht eindeutig zur gleichberechtigten Stellung aller Menschen in der Gesellschaft. Gegenüber Gruppen, die als fremd wahrgenommen werden, beständen in Ost und West ausgeprägte Ressentiments. An diesen Punkten müssen Bildung, Medien und Politik zielgerichtet anknüpfen, um Vorurteile wirksam abzubauen.

Haltung in dunklen Zeiten

geschrieben von Axel Holz

5. Dezember 2018

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Die deutsch-österreichische Verfilmung des 2013 erschienen Bestsellers „Der Trafikant“ von Robert Seethaler läuft derzeit in den Kinos, indem der Autor selbst in einer Nebenrolle mitspielt. Dem Regisseur und Co-Autor Nikolaus Leytner gelingt es, zwischen Politischem und Privaten schwankend, die Selbstverständlichkeit deutlich zu machen, mit der sich ein großer Teil der österreichischen Bevölkerung zu Komplizen der Nazis gemacht hat.

Im Mittelpunkt steht der 17-jährige Franz Huchel aus einem idyllischen Ort am Attersee im Salzkammergut in Österreich im Jahr 1937, dem nach dem überraschenden Tod seines Vaters und Fabrikbesitzers zusammen mit seiner Mutter die ökonomische Basis entzogen wird. Die Mutter Margarete schickt den unwilligen Sohn mit einer Ohrfeige motivierend in die Hauptstadt Wien. Dort soll er beim Tafikanten Otto Trsnjek in Lehre gehen. Eine Trafik ist das österreichische Wort für ein Kiosk, in dem Tabakwaren und Zeitungen vertrieben werden, aber im Film auch Schreibartikel und heimlich pornografische Literatur. Der einbeinige Kioskbesitzer weiht den etwas naiven Dörfler in die Geheimnisse der persönliche Kundenpflege ein. Er lässt als Veteran des ersten Weltkrieges eine spürbare Antikriegshaltung erkennen und pflegt in seiner Trafik persönliche Kontakte zu bürgerlichen Kunden ebenso, wie zu einem stadtbekannten Kommunisten oder dem jüdischen Psychoanalytiker Prof. Freud, gespielt von Bruno Ganz. Franz verliebt sich in die böhmische Varietétänzerin Anezka und macht seine ersten sexuellen Erfahrungen. Ihm ist es ein Rätsel, wie er Anezka an sich binden kann und mit deren Flatterhaftigkeit zu Recht kommen soll. Das Geheimnis der Frauen versucht er beim Zigarren-Stammkunden Siegmund Freund zu ergründen und dabei entwickelt sich eine Freundschaft zwischen dem unerfahrenen Teenager und dem neugierigen Professor. Der betagte Psychoanalytiker empfiehlt ihm, seine Träume aufzuschreiben, die den Jungen in surrealistisch stilisierten Traumsequenzen begleiten. Ebenso surrealistisch bleibt die klinisch reine Umgebung des Kioskes und der davor befindlichen Straße, die den Handlungsort im Film dominieren. Vielleicht gibt die geheimnisvolle Gestaltung des Drehortes einen Hinweis auf die latenten Veränderungen der österreichischen Gesellschaft nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland, die Franz Huchel nicht weniger unklar erscheinen wie manch anderem Zeitgenossen. Denn die österreichische Hauptstadt verändert sich gerade rasant. Das bekommt auch der Kioskbesitzer Otto Trsnjek zu spüren. Regisseur Nikolaus Leytner setzt die folgenlosen Übergriffe der Nazis eher dezent in Szene ohne sie zu verharmlosen. Der Weigerung Otto Trsnjeks, Nazizeitungen zu verkaufen, folgen nicht nur eine Drohung, sondern ungeahndete antisemitische Schmierereien an seiner Trafik. Es dauert nicht lange, dass Nazis den Laden überfallen und schließlich der Fleischer-Nachbar den Meister denunziert und damit in Gestapo-Haft bringt. Die Geschichte des Erwachsenwerdens eines neugierigen und offenen Jungen ist mit einem sehr dunklen Kapitel Wiens verbunden, als aus einer weltoffenen Stadt, für die der Analytiker Freud steht, ein Ort des Misstrauens wird. Während der Trafikbesitzer Haltung zeigt, laufen seine Nachbarn zu den Nazis über, wie der Fleischer an der Ecke und der Gastwirt, der zulässt, wie Nazis unbequeme Gäste aus seiner eigenen Kneipe werfen.

Als der Karton mit den wenigen persönlichen Sachen des Verhafteten aus dem KZ geliefert wird, will Franz Huchel selbst ein Zeichen setzen und hisst nachts die einbeinige Hose des ermordeten Trafik-Besitzers statt der Naziflagge vor dem Gestapogebäude. Dann wird auch er verhaftet. Hier endet der Film, während der Junge im Buch die Haft übersteht und in sein Heimatdorf zurückkehren kann. Haltungen werden im Film auch bei Franzens Mutter gezeigt, die, zurückblieben im Heimatdorf, den sexuellen Übergriffen ihres Chefs mit dem Verweis auf eine angebliche Beziehung zu einem SS-Mann entgeht und als die Lüge platzt, selbst kündigt. Eine andere Haltung zeigt Franzens angehimmelte Anezka. Sie hat sich schnell tatsächlich einem SS-Offizier angedient. Man müsse ja irgendwie zu Recht kommen. Die Haltungen zwischen den Verliebten Franz und Anezka können kaum unterschiedlicher sein, ebenso wie die vieler Wiener in dieser Zeit.

Ausstellung „Die Opfer des NSU“

geschrieben von Axel Hol

8. Oktober 2018

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Zehn Menschen wurden von der neonazistischen Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) in den Jahren 2000 bis 2007 umgebracht. Erst im November 2011 wurden die Verbrechen des NSU einer breiten Öffentlichkeit bekannt, obwohl  Angehörige der Ermordeten bereits zu einem früheren Zeitpunkt von einer rechtsextremen Mordserie ausgingen. Die Verbrechen sorgten weltweit für Entsetzen. Der Prozess gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe und weitere Mitangeklagte vor dem Oberlandesgericht in München hat viele Fragen offen gelassen und die gesellschaftliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes in einem umfassenderen Sinne steht weiterhin aus.

Die Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ beleuchtet neben den Biografien der zehn Mordopfer, den Bombenanschlägen sowie zahlreichen Banküberfällen die Neonaziszenen, aus denen der NSU hervorging. Analysiert werden zudem Gründe, warum die Mordserie so lange unaufgeklärt blieb. Mit den in fünfzehn bekannten Raubüberfällen geraubten 600.000 Euro finanzierte die Terrorgruppe unter anderem die Morde, Bombenanschläge und das Leben im Untergrund. Die Ausstellung beschäftigt sich ausgiebig mit rassistischen Vorurteilen der Mordermittler in allen Mordfällen an den migrantischen Opfern. Aus den NSU-Untersuchungsausschüssen offenbart die Ausstellung wenig Reue und erneute rassistische Äußerungen bei den vernommenen Beamten. Ausgiebig untersuchen die Ausstellungsmacher das Netzwerk des NSU, das im Prozess bis zum Schluss bagatellisiert und klein geredet wurde. Die Terrorgruppe hatte offensichtlich einen großen Helferkreis mit detaillierten regionalen Kenntnissen. Es leistete Hilfe beim Leben im Untergrund, bei der Beschaffung falscher Identitäten, der Ausspähung der Opfer und Tatorte, bei der Realisierung der Verbrechen, emotionale Hilfe durch Besuche der Eltern, durch die Organisation der Urlaube und gemeinsamer Treffen sowie logistische Unterstützung bei Kauf von SIM-Karten, Handys und der Anmietung von PKWs. Eine zentrale Stellung in der Ausstellung hat der später verbotene „Thüringer Heimatschuz“, die Brutstätte des NSU. Sie wurde vom V-Mann des Verfassungsschutzes Tino Brandt geführt, der das staatliche Geld in die Stärkung der Nazi-Strukturen steckte. Viele Fragezeichen wirft das Netz an dutzenden V-Leuten zahlreicher Sicherheitsbehörden auf, das den NSU umgab. Wichtig ist den Ausstellern die Einbettung der scheinbar singulären Terrorfolge in den Kontext der neonazistischen Terrorkonzepte der 90er Jahre. Es ist wahrscheinlich, dass der NSU dem Konzept des „Führerlosen Widerstandes“ folgte, das den Aufbau geheimer Gruppen proagierte, die aus dem Untergrund heraus Terror verbreiten sollten. Der spätere NSU-Terrorist Uwe Mundlos war bereits in den 90er Jahren eng dem internationalen Neonazinetzwerk „Blood & Honour“ verbunden, das Konzerte mit menschenverachtender Musik organisierte.

Großen Raum räumt die Ausstellung den Opfern ein. Es beschreibt das Leben der späteren Opfer in ihren Familien, ihre soziale Anerkennung und Beliebtheit im regionalen Umfeld. Es zeigt aber auch das Leid der Opfer, den Druck falscher Anschuldigen auf die Familien und den Willen vieler Angehöriger der Opfer, die Verbrechen des NSU bedingungslos aufzuklären.

Die Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ wurde in den Jahren 2012 und 2013 von Birgit Mair im Auftrag des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung (ISFBB) e.V. erstellt und mehr als 160 Mal bundesweit gezeigt. Die Präsentationsorte waren Schulen, Landratsämter, Rathäuser, Landtagsgebäude, Gewerkschaftshäuser, Universitäten, KZ-Gedenkstätten, eine Kirche und eine Moschee sowie ein Polizeipräsidium und mehrere Polizeiakademien. Erst kürzlich zeigte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag Brandenburg die Ausstellung und verband die Eröffnung mit einem Expertengespräch, an dem der Brandenburger NSU-Untersuchungsausschuss beteiligt war. Seit April 2018 liegt die Wanderausstellung in aktualisierter und um zwei Tafeln erweiterter Form vor. Gefördert wird die Ausstellung von der Amadeu-Antonio-Stiftung, dem Kulturreferat der Stadt München, der Stadt Rostock sowie dem Bildungs- und Förderungswerk der GEW im DGB e.V.

Auf der Flucht

geschrieben von Axel Holz

4. Juni 2018

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Auf der Berlinale 2018 wurden verschiedene Filme über das Flüchtlingsthema gezeigt. Neben „Styx“ von Wolfgang Fischer und „Eldorado“ von Markus Imhof auch die deutsch-französische Verfilmung von Anna Seghers Roman „Transit“, in dem die Schriftstellerin ihre Fluchterfahrung vor den Nazis im Jahre 1941 künstlerisch verarbeitet. Leider wurde dieser bemerkenswerte Film von Christian Petzold von der Jury unter der Leitung von Tom Tykwer nicht bedacht, als er im Februar in Berlin seine Weltpremiere feierte. Es hätte dafür allen Grund gegeben. Die jüdische Autorin Anna Seghers floh aus dem Schweizer Exil über Paris gemeinsam mit ihren Kindern nach Marseille, bemühte sich um die Freilassung ihres internierten Mannes und wanderte mit mexikanischen Ausreisepapieren schließlich aus. Nicht zufällig erzählt ihr Roman von Georg, der durch die Nazis verfolgt wurde und Briefe und ein Manuskript des Autors Weidel nach Marseille bringen soll, dessen Frau sich von ihm getrennt hat, ihm aber nach Marseille nachfolgt. Weidel begeht in Marseille Selbstmord und seine Frau sucht ihn hoffnungsvoll in derselben Stadt. Sie, die sich in einem flüchtenden Dirigenten verliebt hat, schwankt zwischen der Vision eines neuen Lebens mit ihrem Mann im Exil und dem Neuanfang mit dem Dirigenten in Mexiko. In Marseille erfährt Georg im Hotel vom Selbstmord des Autors und findet dessen Visaunterlagen, die Weidel und dessen Frau unter den vielen wartenden  Flüchtlingen eine Einwanderung nach Mexiko ermöglichen. Georg gibt die Unterlagen von Weidel im mexikanischen Konsulat ab und wird mit dem toten Autor verwechselt, dessen Identität er nun annimmt. Er verliebt sich in Marie, die Frau des toten Autors, ohne sich in seiner neuen Rolle zu offenbaren. Am Ende verzichtet er auf die wertvollen Transit-Unterlagen und gibt sie Marie. Ihr gelingt die Flucht vor den Nazis, aber ihr Fluchtschiff „Montreal“ wird beschossen und geht zusammen mit allen Passagieren an Bord unter. Anders als im Buch, wird dieses schicksalhafte Detail erst zum Ende des Films offenbart. Eine tragische und sehr individuelle Fluchtgeschichte, eine von vielen der Emigranten mit ihren je eigenen Geschichten, die in Marseille auf die rettenden Visa und Schiffspassagen warten und denen Georg im Film überall begegnet. „Transit“ offenbart die universelle Flüchtlingserfahrung, dass die Heimat zum Feindesland wird und die eigene Existenz ungewiss im Wartestand der Duldung verharren muss. Im Film weist die Flucht nur in eine andere Richtung, weg aus Europa. In „Transit“  muss der Ich-Erzähler selbst lernen zu lieben, zugewandt zu bleiben und auch, verzichten zu können. Diese Geschichte ist ein Plädoyer für Empathie, ohne die wir im entscheidenden Moment nicht Menschen sein können. Wie spezifisch es den Flüchtenden dabei geht, beschreibt sehr anschaulich die Szene, als Paula im Film fragt, wer schneller vergisst, jene, die verlassen werden oder jene, die verlassen worden sind.  Sie antwortet, dass die, die verlassen worden sind, Lieder und Kultur haben. Und weiter: die verlassen, haben nichts.

Christian Petzold gelingt mit der Umsetzung seines Films etwas Neues, das zugleich ein großes Wagnis ist. Erfahren im Umgang mit historischen Stoffen, verzichtet er diesmal in Marseille auf die historischen Kulissen. So begegnen dem Zuschauer neben dem alten Koffer des flüchtenden Dirigenten, den Texten des Schriftstellers Weidel in der Sütterlinschrift und den zeitlosen Kaffes in Marseille zugleich heutige Hafenanlagen und Containerschiffe, moderne französische Polizeiautos und Polizeispezialkräfte in neuartiger Montur auf der Jagd nach Migranten in den verwinkelten Gassen der Hafenstadt. Wenn Georg in Marseille Kontakt zu einem marokkanischen Flüchtlingsjungen beim gemeinsamen Kicken aufnimmt, der Borussia-Dortmund-Fan ist, ist die Gegenwart so nah wie nur möglich. Vergangenheit und Gegenwart werden so geschickt miteinander verwoben und aus dem Fluchtthema wird neben der konkreten Geschichte, die erzählt wird, zugleich ein zeitloses Thema, das uns offensichtlich immer wieder einholt. Im Spiegel-online-Interview spricht Petzold davon, einen Schwebezustand geschaffen zu haben, in dem sich die Zeiten überlagern. Ähnlich wie in Stanley Kubricks „Barry Lindon“, der in seinem vergangen Sein so selbstbewusst sei, dass er zu uns zurückschaue. Eine schöne Metapher, die diese hohe Kunst treffend beschreibt.

Christian Petzolds „Transit“ ist ein Aufruf, Flüchtenden zu helfen und die gesetzlichen Grundlagen des Asylrechts nicht auszuhöhlen zu lassen, wie dies seit geraumer Zeit in Deutschland geschieht. Dabei war dieser Satz im Grundgesetz genau die notwendige Antwort auf die Fluchterfahrung Hunderttausender während der Nazi-Zeit. Petzold zeigt, wie wir uns menschlich verhalten können und er zeigt zugleich das Gegenteil davon in Form von Egoismus und Denunziation. Dieser Film ist in seiner Aktualität und Zeitlosigkeit großartig.

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