Vor 75 Jahren: Wir erinnern an das Attentat deutscher Offiziere auf Adolf Hitler

geschrieben von Dr. Ulrich Schneider

20. Juli 2019

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Vor 75 Jahren, am 20. Juli 1944, versuchte eine Gruppe von Offizieren der deutschen Wehrmacht Adolf Hitler mit einem Bombenanschlag zu töten. Sie hatten versucht, wenn auch erst 5 Minuten vor 12, angesichts der drohenden militärischen Niederlage des deutschen Faschismus die – aus ihrer Sicht – schlimmste Katastrophe für ihr Land abzuwenden, indem sie Hitler beseitigen wollten und mit einer neuen Regierung Friedensverhandlungen mit den Westalliierten planten. Unterstützt wurden diese Offiziere durch Frauen und Männer des Kreisauer Kreises. Dies waren Angehörige der alten Eliten, bürgerliche und christliche Nazigegner, selbst Mitarbeiter in Ministerien, die ebenfalls den Krieg als verloren ansahen und für einen Neuanfang auf nichtfaschistischer Grundlage eintraten.
Das Attentat von Claus Graf von Stauffenberg war nicht erfolgreich, das Unternehmen „Walküre“, das die Entmachtung der SS und der faschistischen Organisationen erreichen sollte, scheiterte. Die Verschwörer, die Angehörigen des Militärs und die zivilen Angehörigen des Kreisauer Kreises, wurden verhaftet, wegen Hoch- und Landesverrat angeklagt und hingerichtet, ihre Familienangehörigen in Sippenhaft genommen.
Wir wissen heute: Wären die Attentäter des 20. Juli 1944 erfolgreich gewesen, hätte das in den folgenden Monaten Millionen Menschen in ganz Europa das Leben gerettet, nicht nur Soldaten, die an der Front ums Leben kamen. Gerettet worden wären viele Opfer der Deportationszüge in die Vernichtungslager, die Häftlinge in den Konzentrationslagern, die am Ende des Krieges auf Todesmärsche geschickt wurden, die Zivilisten, die im Zuge des Bombenkrieges und bei der faschistischen Rückzugsform „verbrannte Erde“ ihr Leben oder ihre Lebensgrundlage verloren, nicht zu vergessen die Millionen Flüchtlinge, die vor den Schrecken des Krieges ihre Heimat verlassen mussten.

Wir erinnern daran, dass bis Ende der 50er Jahre selbst diese Nazigegner in der Bundesrepublik Deutschland als „Vaterlandsverräter“ beschimpft wurden. Heute wird in der ganzen BRD zur Erinnerung an die Frauen und Männer des 20. Juli 1944 geflaggt, in einem Festakt im Bendler-Block (Verteidigungsministerium) wird öffentlich ihr Mut gewürdigt. Gleichzeitig wird an diesem Tag in Kassel ein neofaschistischer Aufmarsch genehmigt, der faktisch den jüngsten Mord an dem nordhessischen Regierungspräsidenten Dr. Lübcke durch einen Neofaschisten verhöhnt.

Die FIR würdigt den Mut und die Tat eines Claus Graf von Stauffenberg und der anderen Angehörigen des Militärs vom 20. Juli 1944. Die Erinnerung an diesen Widerstand verpflichtet uns heute mit den Mitteln des gesellschaftlichen Handelns allen neofaschistischen Umtrieben aktiv entgegenzutreten, wie es das Kasseler Bündnis von über 100 Organisationen, Initiativen und gesellschaftlichen Kräften am 20. Juli 2019 unter Beweis stellt.

Verlorene Mitte – Feindselige Zustände

geschrieben von Axel Holz

2. Juni 2019

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Rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung haben tendenziell abgenommen. Aber neue rechte Mentalitäten in der Mitte der Gesellschaft gefährden die Demokratie.

Seit 2002 untersucht eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aller zwei Jahre die politischen und sozialen Einstellungen und prüft, wie fragil und gespalten die gesellschaftliche Mitte ist, die bisher stets als Garant für Stabilität und feste Normen galt. Im Mittelpunkt steht dabei, wie weit rechtsextreme, rechtspopulistische und menschenfeindliche Einstellungen in die Mitte der Gesellschaft eingedrungen sind. Haben Polarisierungen und Konflikte die Norm von der Gleichwertigkeit aller Gruppen verschoben? Ist die demokratische Mitte geschrumpft oder verloren?

Antworten gibt die neue Studie über rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/2019 mit dem Titel „Verlorener Mitte – Feindselige Zustände“. Sie zeigt zunächst, dass rechtsextreme Einstellungen in der Gesamtbevölkerung nicht zugenommen haben, allerdings in einigen Subgruppen. Auffallend ist der Anstieg rechtsextremer Einstellungen bei den Jüngeren, bei Einkommensstärkeren und bei Gewerkschaftsmitgliedern mit Blick auf spezifische Dimensionen wie Antisemitismus und Chauvinismus. Auch hat der Antisemitismus bei Frauen zugenommen, so dass sich die bisher wahrgenommenen Einstellungsunterschiede nach Soziodemografie nivellieren.

Die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen wird in der Studie an sechs Kriterien mit den immer gleichen Fragen gemessen. Auf den Gebieten Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Verharmlosung des NS-Regimes, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus uns Sozialdarwinismus haben sich die Werte von 2002 bis 2018 deutlich verringert – mit einem leichten Anstieg von 2016 bis 2018. So ist über 16 Jahre tendenziell der Hang zum Chauvinismus von 18,3 auf 12,5 Prozent um ein Drittel gesunken. Die Fremdenfeindlichkeit hat sich im gleichen Zeitraum von 26,9 auf 8,9 Prozent um fast zwei Drittel verringert. Insbesondere beim Antisemitismus findet sich bei den Befragten nicht selten eine Zurückweisung oder Ablehnung, während gleichzeitig nationalchauvinistischen und fremdenfeindlichen Positionen umso stärker zugestimmt wird.

Das klingt alles sehr gut und scheint im Widerspruch zum Titel der aktuellen Studie zu stehen. Woran wird dann die „verlorene Mitte“ festgemacht, die von Experten ohnehin ungern als extrem eingeschätzt wird, weil sich damit der Begriff Extremismus selbst überflüssig mache? Darauf gibt ein Aufsatz von Alexander Häusler und Beate Küpper in der Studie Auskunft. Rechtsextreme Einstellungen finden derzeit nicht mehr so viel Zustimmung wie andere antidemokratische Einstellungen, darunter Anti-Establishment-Einstellungen, Unterstellung eines Meinungsdiktats, Islamverschwörung, nationale Rückbesinnung, Ethnopluralismus und Antifeminismus. In der Bundesrepublik wurden rechtsextreme Erscheinungsformen lange Zeit als gesellschaftliche Randphänomene wahrgenommen. Sie fokussierten sich auf Wahlerfolge der traditionellen Rechtsaußenparteien, auf Aufmärsche neonazistischer Kameradschaftsnetzwerke und auf neonazistisch motivierte Gewalttaten.  Mittlerweile hat sich die Grauzone der neuen Rechten im Spannungsfeld zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus zu einem realpolitischen Prozess ausgewachsen, der die Mitte der Gesellschaft zunehmend erfasst. Rechtsextreme Kleinparteien verlieren an Bedeutung oder verschwinden zu Gunsten der rechtspopulistischen AfD. Milieuübergreifende Straßenmobilisierung durch „Pegida“ oder die „Identitären“ verändern das rechte Bewegungsfeld, das zunehmend von einer sozialen und organisatorischen Durchmischung von vormals getrennt agierenden Protestmilieus geprägt ist. Rechtspopulistische Wahlerfolge und rechte Straßenmobilisierung münden zunehmend in autoritär strukturierte und teilweise gewaltaffine Formern rechter Selbstermächtigung.

Unter neurechtem Einfluss erodiert die Abgrenzung zwischen Konservatismus und Rechtextremismus. Mit sozialpopulistischer Demagogie gelang der AfD ein Einbruch in das Lager ehemals linker Wähler und die Mobilisierung von Nichtwählern. Anders als bei den Neonazis wird hier die demokratische Ordnung formell nicht in Frage gestellt, aber durch einen Rückgriff auf den ultranationalistischen Mythos eine Radikalisierung nach rechts und damit eine Revision der Verfassungswirklichkeit bzw. einzelner Normen angestrebt. Dabei gehen die Rechtpopulisten von einer ethnisch bedingten Ungleichheit der Menschen aus, verlangen nach ethnischer Homogenität der Völker, lehnen das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklaration ab, betonen den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum, unterordnen den Bürger unter die Staatsräson, lehnen den Wertepluralismus liberaler Demokratie ab und wollen Demokratisierung rückgängig machen. Über völkisch-autoritären Populismus wird der alte harte Rechtsextremismus in modernem, soften Gewand verpackt.

Der AfD gelingt es, verschiedene Phänomene des Rechtsaußenspektrums zu repräsentieren und in die Parlamente zu tragen. Wer meint, mit diesen Kräften einen Dialog führen zu wollen, sollte nicht glauben, sie mit freundlichen Argumenten auf den Pfad der Demokratie führen zu können, kommentieren die Autoren der Studie. Sie erinnern daran, dass die Nationalsozialisten nie die absolute Mehrheit erlangen konnten und auch niemals formal die Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt haben. Dennoch konnten sie ihr autoritäres Herrschaftssystem etablieren, bei dem viele mitgemacht und mitgejubelt haben.

Der Fall Collini

geschrieben von Axel Holz

30. Mai 2019

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cinecitta.de

Der SpielfilmDer Fall Collini“ thematisiert neben dem jahrzehntelangen Versagen des bundesdeutschen Staates bei der Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern dessen Kollaboration mit den Tätern. Ein unscheinbares Gesetz verhinderte 1968 die effektive Verfolgung von Kriegsverbrechern.

Nach langem Schweigen wurde in Deutschland das gesellschaftlich unbewältigte NS-Erbe auch künstlerisch thematisiert. Ob in den 60er Jahren mit „Die Ermittlung“ von Peter Weiss, „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth oder im Film „Der Rosengarten“ über ermordete Kinder vom Bullenhuser Damm und ihre unangetasteten Täter von 2013, seit über 60 Jahren gibt es nun eine gesellschaftliche Debatte um den Umgang der Deutschen mit ihren Kriegsverbrechern. Mit der jüngsten Verfilmung des 2011 erschienenen Romans „Der Fall Collini“ von Ferdinand von Schirach durch Regisseur Marco Kreuzpainther wird diese Tradition zugespitzt. Im Film geht es nicht nur um die jahrzehntelange Verschleierung von NS-Kriegsverbrechen und um die Behinderung ihrer Verfolgung durch die NS-durchsetzten Eliten der 50er und 60er Jahre, sondern um das Versagen des Staates. Warum kamen eigentlich so wenige NS-Kriegsverbrecher vor Gericht? Eine Ursache liegt in einem unscheinbaren Gesetz aus dem Jahre 1968, dem nach dem ehemaligen Nazi-Staatsanwalt und Ministerialbeamten benannten Dreher-Gesetz. Als „Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG)“ wurde es kritiklos durch den Bundestag gewinkt und hatte doch verheerende Wirkungen auf die Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern.  Aus Mördern machte es Mordgehilfen, deren Taten 1960 verjährt waren. Das Gesetz unterbrach sofort viele bereits laufende Verfahren. Auf dieser Grundlage mussten nun ehemaligen Wehrmachtssoldaten und SS-Leuten erst individuell niedrige Beweggründe oder andere Mordmerkmale nachgewiesen werden, um eine Verurteilung zu erwirken. Der Film bringt das vergessene Schand-Gesetz wieder ans Tageslicht und zeigt in einer auf Tatsachen beruhenden Geschichte, welche verheerende Wirkung der Rechtsstaat mit einem Recht bewirkte, dass die NS-Opfer im Stich ließ und die Täter schützte.

Im Film tötet der vom alternden Franc Nero gespielte Gastarbeiter Fabricio Collini den angesehenen Industriellen Hans Meyer in einer Berliner Hotelsuite – scheinbar ohne jedes Motiv. In Deutschland führte er seit dreißig Jahren ein unauffälliges Leben, bevor er überraschend den wohlhabenden und sympathisch wirkenden Konzern-Vorstand erschießt und wütend auf sein Opfer eintritt. Ein guter Job-Start für den frisch gebackenen Strafrechtler Caspar Leinen, gespielt durch Elya M’Barak, der vielen aus „Türkisch für Anfänger“ und „Fack ju Göhte“ bekannt ist. Schwierig wird es für den Anwalt, als er erfährt, dass das Opfer sein ehemaliger Ziehvater ist, der den türkischstämmigen Jungen bereits früh gefördert hatte.  Caspar, der Junge einer alleinerziehende türkischen Mutter, hatte dort faktisch sein zweites zuhause gefunden. Fabrikbesitzer Meyer wiederum war der Großvater eines Schulfreundes, der ihn vor rassistischen Anwürfen des eigenen Enkels in Schutz nahm – anders als in Schirachs Buchvorlage, in der der Industrielle Meyer ein unbelehrbarer Sadist ist. Schwierig wird es für ihn auch dadurch, dass Alexandra Maria Lara in der Rolle von Johanna Meyer die Enkelin des Industriellen und seine Jugendliebe ist, die nun alles für die Aufklärung des Mordes tut und einiges mehr. Nur mit Mühe gelingt es dem jungen Anwalt Leinen, die Motive des müden Gastarbeiters während des Prozesses zu ermitteln, der im ganzen Film nur wenige Sätze von sich gibt und dennoch mit ausdrucksvoller Verbitterung beeindruckt. Wie bei Schriach im Buch besteht der Coup des Anwalts Leinen auch im Film darin, dass er die deutsche Justiz auf die Anklagebank setzt. Der Gastarbeiter Collini hatte als Kind mit ansehen müssen, wie SS-Offizier Meyer seinen Vater zusammen mit weiteren Männern des Dorfes Montecatini 1944 im Rahmen einer sogenannten Vergeltungsaktion erschießt. Die Mörder des Massakers werden nie bestraft, sondern im Gegenteil durch eine Rechtsänderung erst vor Verfolgung geschützt, wie Anwalt Leinen im Prozess offenbart. Realistisch erscheint auch, dass der erfahrene Onkel des Industriellen als renommierter Strafrechtsprofessor Richard Mattinger in Absprache mit Enkeltochter Johanna Meyer nicht nur als Kläger auftritt, sondern eine Offenlegung des Nazi-Vergangenheit des angesehenen Industriellen mit allen Mitteln zu verhindern sucht. Die Mittel reichen von der Einschüchterung bis zum Angebot, Anwalt Leinen bei Verzicht auf die Verteidigung lukrative juristische Aufträge in Aussicht zu stellen. Der Film bleibt bis zum Schluss spannend. Tatsächlich wurde bis auf eine Ausnahme kein deutscher Wehrmachts- oder SS-Täter jemals von einem deutschen Gericht wegen in Italien begangener Kriegsverbrechen verurteilt. Es ist das Verdienst des Films, dass er das schwer verständliche und nie korrigierte Versagen der deutschen Justiz bei der Verfolgung von Naziverbrechen eindrucksvoll einem breiten Kinopublikum ins Bewusstsein rückt.

 

Rede zum 74. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus in Malchin

7. Mai 2019

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Am 6. Mai versammelten sich knapp 30 Menschen am Friedhof der bei der Befreiung Malchins und Umgebung gefallenen Rotarmisten, um dem Ende der faschistischen Terrorherrschaft und dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu gedenken. Nico Burmeister, Sprecher unserer Landesvereinigung, hielt einen Redebeitrag.

Liebe Freund*innen und Kamerad*innen,

diesen Mittwoch begehen wir in vielen Städten M-V’s den 74. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus. Nach sechs langen Jahren des Krieges war das Dritte Reich endlich militärisch besiegt. Der deutsche Faschismus ging unter, so schien es.

Fast ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Ende des Krieges breiten sich menschenverachtende Ideologien in Deutschland wieder aus. Nach dem vermeintlichen Niedergang der NPD knüpften unmittelbar die Erfolge der AfD an. Längst sind rechtsextreme Einstellungen in der sogenannte Mitte der Gesellschaft wieder angekommen.

Wenn Nazis wieder in SA Manier unter Polizeischutz durch Plauen marschieren dürfen,

Wenn Rechtsextreme über die AfD in die Landtage und den Deutschen Bundestag einziehen,

Wenn täglich irgendwo in der Bundesrepublik Geflüchtete und deren Unterstützer*innen angegriffen werden,

Wenn sich Rechtsextreme augenscheinlich in der Polizei Hessens breit machen dann wissen wir,

dass „der Kampf gegen den Nazismus mit all seinen Wurzeln“, den die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald 1945 ausriefen, immer noch nicht zu Ende ist.

Doch der Kampf für eine „neue Welt des Friedens und der Freiheit“ ist noch nicht verloren. Immer öfter gehen nicht nur ältere, sondern auch junge Menschen auf die Straße und engagieren sich für eine weltoffene Gesellschaft.

In Rostock gehen jeden Monat aufs neue vor allem Jugendliche gegen die rechten Aufmärsche der AfD auf die Straße

In Güstrow stellten sich in den letzten Monaten Jugendliche Naziaufmärschen in den Weg und waren dabei sogar in der Überzahl.

Auch waren es junge Menschen, die sich am 1. Mai in Wismar der NPD direkt in den Weg stellten, während es andere vorzogen, sich mit ihrem Alibiprotest möglichst weit von den Nazis weg zu bewegen und ihnen damit quasi die Straße überließen.

Diesen Mittwoch werden wieder hunderte Menschen, jung und Alt gemeinsam, gegen den rechtsextremen Aufmarsch der Nazis in Demmin protestieren.

Ja, die Nazis sind wieder da. Oder waren nie weg. Aber eins ist sicher: wir sind auch da. Wir lassen nicht locker, bis der Hass der Nazis und anderer Rassist*innen endgültig geächtet ist.

Wir bleiben hier und überlassen den Rechten nicht das Feld. Weder in Malchin, noch sonst wo in Mecklenburg- Vorpommern. Nicht einen Quadratmeter. Und deshalb hoffe ich, dass wir uns allealle am 8. Mai in Demmin sehen.

Ich danke für eure Aufmerksamkeit.

VVN-BdA M-V unterstützt Spendenaktion gegen rechtsextreme Demo in Demmin

29. April 2019

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Der Landesvorstand der VVN-BdA unterstützt die Aktion gegen den Aufmarsch der Rechtsextremen am 8. Mai mit einer Spende in Höhe von 200 €. Mitglieder des Verbandes unterstützen seit vielen Jahren die friedlichen Proteste und freuen sich, dass sich immer mehr Menschen den Gegenveranstaltungen anschließen und damit deutlich machen, dass sie nicht gewillt sind, dass die schrecklichen Ereignisse am Kriegsende 1945 in Demmin für rechtsextremes Denken und Handeln missbraucht werden.

Peter Ritter, MdL

Landessprecher der VVN-BdA Mecklenburg-Vorpommern

Ausstellung Europäischer Widerstand in Schwerin

28. April 2019

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Ab Dienstag den 30. April 2019 wird in der Volkshochschule „Ehm Welk“ in der Schweriner Puschkinstraße 13 die Ausstellung “Antifaschistischer Widerstand in Europa 1922-1944“ der Internationalen Förderation der Widerstandskämpfer FIR und des belgischen Institut Vétérans für zwei Wochen zu sehen sein. Auf fünfzig Schautafeln wird der Widerstandskampf gegen den Faschismus in 21 Staaten Europas dargestellt. Die Ausstellung wurde bereits in Brüssel, Berlin, Moskau, Hamburg, Bremen, Rostock, Kassel und in der Gedenkstätte Buchenwald gezeigt. Antifaschistischer Widerstand hatte in den verschiedenen Ländern Europas ganz unterschiedliche Formen. Dabei ging es darum, ob es im Land selber einflussreiche faschistische Bewegungen gegeben hat wie in Deutschland, Italien, Frankreich, Ungarn oder Spanien – oder, ob die nazistische Herrschaft erst während der militärischen Okkupation durch die deutschen oder italienischen Truppen in das Land kam. Auch die Zugänge zum Widerstand waren von den jeweiligen nationalen Besonderheiten abhängig. Antifaschisten reagierten auf die jeweiligen Maßnahmen der faschistischen Herrschaft. In Deutschland, Italien und Bulgarien kämpfte man zuerst gegen die Einschränkungen aller Freiheitsrechte und für die Bewahrung der früher erkämpften sozialen und politischen Standards. In den angrenzenden Ländern setzte sich der Widerstand für Verfolgte ein, man unterstützte deutsche und italienische Flüchtlinge und Antifaschisten. Man bekämpfte mit politischen Mitteln die faschistischen Organisationen, die in weiteren Ländern zur Macht strebten. Mit Beginn des deutschen Angriffskrieges wandelte sich der politische Charakter des Widerstands. Nun ging es nicht mehr allein um die Solidarität mit ausländischen Verfolgten, Antifaschisten oder rassisch Ausgegrenzten, nun ging es um die Freiheitsrechte und die persönliche Unversehrtheit jedes einzelnen Bürgers und um die Unabhängigkeit des eigenen Landes. Die Geschichtsausstellung ist aktueller denn je, denn neofaschistische  und rechtspopulistische Kräfte sind in Europa auf dem Vormarsch.

Extremismus-Begriff schadet der Jugendbildungsarbeit

geschrieben von Axel Holz

28. April 2019

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Zu diesem Schluss kommt der Reader „Das Extremismusmodell. Über seine Wirkungen und Alternativen in der politischen (Jugend-)Bildung und Jugendarbeit“ des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismus-Arbeit IDA in Düsseldorf. IDA ist seit seiner Gründung 1990 gewachsen und bildet mit mittlerweile 30 Mitgliedsverbänden ein breites Spektrum jugendpolitischer und jugendverbandlicher Organisationen ab. Insbesondere in der Debatte um die „Demokratieerklärung“ für förderwürdige Projekte von 2011 habe sich im öffentlichen Diskurs gezeigt, dass der Extremismus-Begriff wenig trennscharf definiert oder kritisch hinterfragt wird. Mit dem Reader versucht IDA nun den Diskurs um das Extremismus-Modell zu bündeln, die Anwendung des Begriffs für die politische Arbeit zu hinterfragen und Alternativen zu entwickeln.

Der Begriff Extremismus ist als antikommunistischer Kampfbegriff im Kalten Krieg entstanden und lehnt sich stark an den Totalitarismus-Begriff an. Mit dem wurde politisch vor allem im Historikerstreit der achtziger Jahre durch den Vergleich von mittlerweile historischen Gesellschaftsmodellen versucht, die Singularität der Naziherrschaft in Deutschland zu relativieren, die jahrzehntelangen Versäumnisse bei der Aufklärung der Naziherrschaft zu vertuschen und die Ursachenforschung für die Entstehung diskriminierender Einstellungen und undemokratischer Prozesse zu verdecken. Mit der Einführung des Extremismus-Begriffs in die politische Bildungsarbeit in den achtziger Jahren wurde diese Fehlsteuerung fortgesetzt. Im Umfeld von Geheimdiensten entstanden, gehört er heute trotz einer kritischen staatlichen Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit v.a. seit Ende der 90er Jahre bei  Inlandsgeheimdiensten, in der politischer Bildung aber auch in der Presse und Teilen der Zivilgesellschaft zu einem oft unkritisch hingenommenen Instrument der politischen Bewertung und öffentlichen Brandmarkung. Die Extremismus-Theorie wird auch immer wieder systematisch durch die kostenlosen Verteilung des von Verfassungsschützern und Extremismus-Experten geprägten „Jahrbuchs für Extremismus“ und durch andere derartige Schriften in Bildungseinrichtungen und Bibliotheken gespült, um den Diskurs im Sinne dieser Theorie zu beeinflussen. Dabei steht die „Hufeeisentheorie“ von den vermeintlichen Extremen am Rande der sonst makellos demokratischen Gesellschaft schon lange in der Kritik. Sie entlaste die gesellschaftliche Mitte mit hohen Anteilen an diskriminierenden Einstellungen, setzte linke und rechte Aktivitäten gleich, kriminalisiere antifaschistisches und antirassistisches Engagement, kritisiert Bernhard Weidinger im Reader. Insbesondere wird der Ungleichheitsansatz, die Folge eines hierarchischen Menschenbildes und die Notwendigkeit von Autorität und Unterordnung bei der Analyse von Rechtsextremismus nicht klar benannt, während es in der linken Diskussion aktuell keine ernstzunehmenden „extremen“ Ansätze für die Infragestellung von Grundrechten und bei der Anerkennung der Gleichheit der Menschen gäbe. Gerade heute wird deutlich, dass populistische Parteien und Bewegungen zunehmend mit nazistischem und völkischem Gedankengut sympathisieren und damit nicht nur am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft auf beachtliche Resonanz stoßen. Die Orientierung der Extremismus-Theorie am bürgerlichen Verfassungsstaat erscheint problematisch, weil die Anhänger der Theorie damit dem heute vorherrschenden Arrangement der extremen Rechten mit der Demokratie auf dem Leim gehen, so Weidinger. Deshalb sei die Bestimmung antidemokratischer Gesinnung weniger formal, sondern vielmehr auf inhaltliche Kriterien abzustellen. Damit würde sich der Blick auf die Haltung der Akteure zur Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens richten als ein nicht abgeschlossener bzw. nicht abzuschließender Prozess. Demokratiefeindlichkeit zeige sich zum Beispiel in der Geringschätzung des Individuums und der Masse als demokratischer Souverän, in der Verächtlichmachung von demokratischen Prozessen, in der Verherrlichung staatlicher und patriarchaler Autorität, in der Ethnisierung des Sozialen und zuletzt in der Fronstellung gegen Bewegungen, die sich Demokratisierung als gleichberechtigte Teilhabe auf die Fahnen geschrieben haben. Die Infragestellung von Grundrechten und Demokratie wird heute vor allem deutlich in Form der Naturalisierung gesellschaftlich produzierter Ungleichheit, durch Forderungen nach Rückbau demokratischer Errungenschaften als Folge vermeintlicher ökonomischer und administrativer Sachzwänge und schließlich durch eine kulturalisierende Ursachenbestimmung gesellschaftlicher Entwicklungen.

Wie ungeeignet der Extremismus-Begriff für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen  ist, zeigen die Autoren an zwei Beispielen sehr anschaulich.  Da ist zum einen der zeitweise als potentiell linksextremistisch gebrandmarkte Münchner Verein a.i.d.a. Nach jahrelangem Rechtsstreit konnte nicht nachgewiesen werden, warum der Verein linksextremistisch sein soll. Sowohl der Eintrag im Verfassungsschutzbericht als auch der Entzug der Gemeinnützigkeit mussten zurückgenommen werden. Geblieben ist eine ungestrafte nachhaltige Rufschädigung und die jahrlange Behinderung antirassistischer Dokumentations- und Öffentlichkeitsarbeit. Auf der anderen Seite zeigen die Autoren, wie in Sachsen jahrelang die Gefahr neonazistischer und rechtsextremer Einflussnahme und Gewalt durch die Landesregierung systematisch beschönigt wurde, die durch den maßgeblichen Begründer des Extremeismusbegriffs  Prof. Jesse diesbezüglich nachhaltig beraten wurde. Zugleich wird deutlich gemacht, wie mit dem Extremismus-Ansatz zivilgesellschaftliche Initiativen in Sachsen über Jahre systematisch behindert, torpediert und zerschlagen wurden, die sich gegen rassistische Meinungsmache und zunehmende rechte Gewalt gerichtet hatten. Es wird Zeit, dass sich nicht nur Einrichtungen der Jugendarbeit, sondern auch Gewerkschaften, Organisationen sowie emanzipatorisch und teilhabeorientierte Parteien mit dem Versagen der Extremismus-Keule auseinandersetzen, alternative menschrechtsorientierte Ansätze politisch diskutieren und auch institutionell in den von ihnen regierten Bundesländern verankern.

Bericht zur 26. Nordkonferenz

13. April 2019

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Am Wochenende vom 15. bis 17. März 2019 fand in der antifaschistischen Erholungs- und Begegnungsstätte Heideruh die 26. Nordkonferenz der VVN/BdA der norddeutschen Bundesländer statt. Erster Referent am Samstag war Dr. Alexander Yendell, der über das Thema referierte: „Flucht ins Autoritäre“. In unübersichtlichen Zeiten ist es für viele Menschen reizvoll, sich in rechte Netzwerke mit möglichst einfachen Antworten zurückzuziehen. Diese Netzwerke vermitteln auch ein Stück Sicherheit. Die Gegenstrategie wird darin bestehen, dass rechte Netzwerke aufgedeckt sowie inhaltliche Positionen offengelegt und kritisiert werden. Die Programmatik rechtsautoritärer und rechtsradikaler Parteien und Organisationen wurde analysiert. Die Verstärkung der Bündnisarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen wird angestrebt. Am Nachmittag referierte Gerd Wiegel, Fachreferent Rechtsextremismus in der Bundestagfraktion DIE LINKE über das Thema: Die Netzwerke der neuen Rechten und gesellschaftliche Gegenstrategien.  Er führte aus, dass rechte Netzwerke in gesellschaftliche Institutionen einzudringen versuchen um dort die Meinungsführerschaft zu übernehmen. Als Gegenstrategie wird u.a. vorgeschlagen, Geschichtsfälschungen aufzudecken, Veränderungen von Diskursen und in Institutionen durch rechte Propaganda zu beobachten und öffentlich zu machen. Als letzter Referent des Tages trat Bernd Meimberg auf. Er sprach über das Thema:  Rechtskonservative Tendenzen für einen „neuen“ Militarismus. Die Affinität konservativer und rechtsradikaler Kräfte zum Militär ist sehr groß. Die Friedenskräfte sollten die Haltung zu Frieden, Militarismus und Rüstung im rechten Lager und in der aktuellen Politik offenlegen und kritisch begleiten. Die Konferenz klang am Sonntag mit Erfahrungen aus den norddeutschen Bundesländern über den Rechtsruck und die Folgen für antifaschistische Arbeit aus.

8. Mai als einmaliger Feiertag – mehr als nur ein beliebiger Akt

8. April 2019

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Pressemitteilung vom 8. April 2019 zum Vorstoß im Landtag von M-V, den 8. Mai 2020 als einmaligen Feiertag zu begehen.

Der Landesvorstand der VVN-BdA Mecklenburg-Vorpommern begrüßt die Initiative der Linksfraktion im Landtag, den 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des 2.Weltkrieges als einmaligen Feiertag zu würdigen. Angesichts anhaltender rechtsextremer Gewalt auch in Mecklenburg-Vorpommern und zunehmender rechtspopulistischer Strömungen in ganz Europa ist das Erinnern an die Verbrechen der NS-Diktatur dringender denn je.

Auch die wieder zunehmende Tendenz des Wettrüstens, stetig wachsende Rüstungsexporte und Militarisierung der Außenpolitik sind ernstzunehmende Warnsignale! Krieg darf kein Mittel der Politik sein, Krieg muss geächtet werden! Gründe genug, den 75. Jahrestag der Befreiung in würdiger Form zu begehen.

Mecklenburg-Vorpommern war vor 20 Jahren das erste Bundesland , dass den 8. Mai als offiziellen Gedenktag einführte. Einzelne Bundesländer sind diesem Beispiel gefolgt. Berlin hat nun den 8. Mai 2020 zum einmaligen Feiertag erklärt. Es stünde Mecklenburg-Vorpommern gut zu Gesicht, ebenso zu entscheiden. Der Landesvorstand der VVN-BdA ruft daher die demokratischen Fraktionen im Landtag auf, den Gesetzentwurf der Linksfraktion nicht einfach so ad Acta zu legen, sondern einem normalen parlamentarischen Verfahren zu unterziehen und den Weg für einen einmaligen Feiertag zur Würdigung des 75. Jahrestages der Befreiung zu ebnen. Darüber hinaus ruft der Landesvorstand der VVN-BdA die Mitglieder des Landtages und die Ministerpräsidentin des Landes und ihr Kabinett auf, am diesjährigen 8. Mai gegen den erneuten NPD-Aufmarsch in Demmin deutlich Flagge zu zeigen!

Der Nürnberger Ärzteprozess

geschrieben von Axel Holz

17. Februar 2019

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Dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gegen die Spitzen des NS-Regimes vor dem Internationalen Militärgerichtshof folgten weitere zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse vor einem nationalen US-amerikanischen Militärtribunal nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10. Die gesamte Prozessserie fand zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 statt. In den zwölf thematischen Nachfolgeprozessen wurden Gruppen von angeklagten Kriegsverbrechern einzeln verhandelt – gegen Ärzte, den Fliegergeneral Milch, Verwaltungsbeamte des Wirtschaftshauptamtes, Juristen, Industrielle wie Flick, faschistische Kolonisatoren des Rasse- und Siedlungshauptamts, Geiselmörder in Südeuropa, Kommandeure der Einsatzgruppen, Unternehmer der IG Farben, Minister und Manager im Wilhelmstraßenprozess, die Firma Krupp und Mitglieder des Oberkommandos der Wehrmacht.

Eigentlich sollte ein zweiter internationaler Prozess gegen deutsche Wirtschaftsbosse nach dem Hauptkriegsverbrecherprozess folgen. Doch dem neuen US-Präsidenten Truman schien das im sich anbahnenden Kalten Krieg zu riskant. Im Frühjahr 1946 sagte er diesen Prozess ab. Es folgten die zwölf genannten Themen-Prozesse. Der Ärzteprozess stand am Anfang, weil sich die Alliierten hier auf Unterlagen und Verdächtige stützen konnten, die Aussicht auf harte rechtskräftige Verurteilungen versprachen. Schließlich wurde durch medizinische Menschenversuche, wissenschaftlich verbrämte Morde für eine Skelettsammlung und den Massenmord an psychisch Kranken und Unangepassten der Aktion T4 mit Hilfe einer ganzen Berufsgruppe hunderte KZ-Häftlinge durch Medizinversuche gequält oder ermordet und über 100.000 behinderte Menschen ermordet.

Vor dem US-Gericht des Obersten Richters des Supreme Court des Staates Washington Walter B. Beals standen vom 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947 innerhalb von 139 Prozesstagen 23 Angeklagte, 20 Mediziner und drei Verwaltungsbeamte, darunter auch Hitlers Begleitarzt und Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Karl Brandt. Einige der Täter waren bereits durch Suizid verstorben oder waren im Dachauer Prozess verurteilt worden. So fehlten auf der Anklagebank der Reichsleiter und Chef der Kanzlei des NSdAP-Führers Philipp Bouhler, der zur Organisationszentrale des Behindertenkrankenmordes gehörte und sich das Leben nahm. Auch Reichsgesundheitsführer Dr. med. Leonardo Conti hatte sich bereits in seiner Zelle umgebracht, als ihm die Anklage bevorstand. Der höchstgestellte Mediziner der SS, Reichsarzt Dr. jur. Robert Grawitz, hatte sich zusammen mit seiner Familie bei Kriegsende getötet. Andere, wie der Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe bis 1943, Prof. Erich Hippke, waren noch nicht ermittelt worden. Die einzige angeklagte Frau war die Ärztin des KZ Ravensbrück Herta Oberheuser. Mit auf der Anklagebank saßen u.a. der persönliche Referent des Reichsführers SS Dr. jur. Rudolf Brandt, SS-Oberführer in der Reichskanzlei Viktor Brack, sowie als Ärzte der stellvertretende Leiter der Reichsärztekammer Prof. Dr. med.  Kurt Blome, Gruppenführer Prof. Dr. med. Karl Brandt, der oberste Kliniker der SS und Leibarzt Himmlers Prof. Dr.  Karl Gebhardt und der Generaloberstabsarzt und Chef des Wehrmachtssanitätswesens Prof. Dr. med.  Siegried Handloser. Ausschlaggebend für die Anklage war letztlich, in welchem Tempo es gelang, Beweismaterial zur Verfügung und damit den Prozess auf sicheren Grund zu stellen.

Die Angeklagten wurden in sieben Fällen zum Tode verurteilt und ein Jahr später hingerichtet. Fünf Angeklagte erhielten eine lebenslange Freiheitsstrafe, vier wurden zu Haftstrafen zwischen 10 und 15 Jahren verurteilt und sieben Angeklagte wurden freigesprochen. Das Gericht verhandelte als Anklagepunkte Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen. Der vierte Anklagepunkt der Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen wurde abgesetzt.

Die Opfer der verhandelten Verbrechen waren Männer und Frauen aus Konzentrationslagern, Angehörige mehrerer Nationen, Juden, Sinti und Roma. Einige von ihnen traten im Gerichtssaal auf. Die Verbrechen der Angeklagten waren unterschiedlicher Art. Ziel der mörderischen Experimente war es, verwertbare Erkenntnisse für Luftwaffe und Heer zu gewinnen. Das Leben der hunderten unfreiwilligen Opfer wurde bei medizinischen Versuchen nicht nur aufs Spiel gesetzt, sondern auch gezielt beendet, um mit Hilfe der toten Opfer weitere Erkenntnisse zu erzielen. So wurde der längere Aufenthalt im eiskalten Wasser an Häftlingen getestet, die Aufnahme von Meer- statt Normalwasser, wurden Infektionen von Fleckfieber erzeugt und beobachtet, Wunden verschmutzt, Sulfonamidversuche zur Bekämpfung von Infektionen getestet, Lost- und Phosgenversuche durchgeführt und schließlich für eine Skelettsammlung in Straßburg 86 jüdische Häftlinge des KZ Netzweiler ermordet und seziert.

Eines der größten Verbrechen der Nazi-Diktatur war die Sterilisierung Hunderttausender und Ermordung von etwa Einhunderttausend behinderten und unangepassten Menschen. Dafür wurden tausende Ärzte missbraucht. Tausende Ärzte wurden im vorpommerschen Alt Rehse indoktriniert und auf Euthanasie-Aufgaben in KZs, Tötungsanstalten für Behinderte sowie in Pflegeheimen und Krankenhäusern auf die Euthanasie vorbereitet. Die Ermordung von behinderten Menschen erfolgte schließlich in vier Phasen: im Rahmen der sogenannten Kinder-Euthanasie wurden 1939 bis 1945 5.000 Kinder ermordet. 1940 bis 1941 wurde 70.000 Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten im Rahmen der T4-Aktion in Tötungsanstalten wie Hadamar, Sonnenstein und Bernburg ermordet. Psychiatrische Landeskrankenhäuser dienten als Zwischenstation zu den Mordstätten. Etwa 20.000 KZ-Häftlinge wurden 1942 bis 1945 in Mordanstalten der T4-Aktion getötet. Schließlich wurden mit der Aktion Brandt 1942 bis 1945 weitere 30.000 Menschen durch Medikamente und Essensentzug ermordet, um für den steigenden Bedarf an Ausweichkrankenhäusern Platz zu schaffen. Dazu wurden behinderte Patienten in besonderen Anstalten in der Mitte und im Osten des Reiches konzentriert und ermordet.

Nie zuvor hatte es grausame medizinische Versuche in einer solchen Dimension gegeben wie im NS-Regime. Menschenversuche an wehrlosen Menschen hatten bereits vorher stattgefunden. Aber nie zuvor war eine Gruppe von Menschen als wertlos und lebensunwert abgestempelt worden. Deutsche Ärzte hatten in einem Ausmaß den Eid des Hippokrates und alle bereits vorhandene ethischen Standards gebrochen, dass es bis heute für die medizinische Zunft beschämend ist. Aktiv, wissentlich, organisiert und in vorauseilendem Gehorsam hatten deutsche Mediziner an der Entrechtung der jüdischen Kollegen mitgewirkt. Dazu gehöre auch die Beteiligung von NS-Ärzten an Verhaftungen und Gewaltexzessen gegen Juden und Kommunisten, ebenso wie das geräuschlose Wirken der Bürokratie der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschland und der Reichsärztekammer, betonte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Dr. Andreas Gassen bei der Einweihung eines  Gedenkteins für die ermordeten jüdischen Ärzte im vergangenen Jahr zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht. All dieses moralische Fehlverhalten war nicht Gegenstand des Nürnberger Ärzteprozesses, ebenso wie die Tatsache, dass zahlreiche Ärzte bei der Übernahme ehemals jüdischer Praxen von der Vernichtung der Konkurrenz profitiert hatten. Nicht verhandelt wurden auch alle Verbrechen, die vor Kriegsbeginn begangen wurde, wie die Zwangssterilisation hundertausender Menschen mit Behinderungen. Auch der willkürliche Entzug der Kassenzulassung für jüdische Ärzte ab 1933 im Rahmen der Nürnberger Rassegesetze und die Aberkennung ihrer Approbation ab 1938 standen nicht zur Debatte. Nicht verurteilt wurden die hunderten Helfer des ärztlichen Völkermordes, soweit sie nicht in wenigen regionalen Prozesse im Osten (Dresden, Schwerin) bereits weitgehend rechtsstaatlich zu Todes- oder langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Tatsächlich wurde in Westdeutschland nach den Nürnberger Prozessen kein einziger Arzt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der NS-Zeit verurteilt.

Bereits 1938 hatten sich 30.000 Ärzte dem 1929 gegründeten Nationalsozialistischem deutschen Ärztebund angeschlossen. Deren Mitglieder waren auf das faschistische Verständnis von Volksgesundheit, Rassereinheit und Erbkrankheit eingeschworen. Befördert wurde dieser Prozess durch das elitäre Bewusstsein und die weitgehend konservative Einstellung dieser Berufsgruppe, die später überdurchschnittlich in NSdAP und SS vertreten war. Begünstigt wurde dieser Prozess auch durch die Situation der ambulanten Versorgung in der Weimarer Republik. Auf Grund eines Überangebotes von Ärzten nach einer Ausbildungswelle zu Beginn der 20er Jahre wurden Niederlassungsbeschränkungen eingeführt, so dass ca. zehn Prozent der Ärzte arbeitslos waren oder sich anderweitig verdingen mussten. Diese ärztliche Reserve war besonders anfällig für die NS-Avancen, zumal mit Beginn der Naziherrschaft die in der Wirtschaftskrise rückläufigen Ärzteeinkommen wieder anstiegen und den Arztberuf erstmals zum attraktivsten Beruf beförderten.

Neben der symbolhaften Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher unter der deutschen Ärzteschaft hatte der Nürnberger Ärzteprozess auch zu einem Umdenken im ärztlichen Handeln geführt – weg von einer kollektiven und hin zu einer individuellen Ethik. Im Nürnberger Kodex wurde der Rahmen für zukünftige medizinische und psychologische Menschenversuche festgelegt, der bis heute gilt. Ein Kernelement medizinischer Versuche ist dabei die Freiwilligkeit der Patienten.

Die deutsche Ärzteschaft hat sich lange gegen die Aufarbeitung der Verstrickung ihrer Berufsgruppe mit dem NS-Regime gewährt. Im Nürnberger Ärzteprozess fanden sich aus der Ärzteschaft keine prominenten Ärzte zur Prozessbeobachtung bereit. Diese Aufgabe übernahm schließlich der von den Nazis zweimal verhaftete Alexander Mitscherlich. Die erste Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses erschien 1949 in einer Auflage von 10.000 Exemplaren und wurde ausschließlich an Ärzte versandt. Erst 1960 erschien eine allgemein zugängliche Auflage im Fischer-Verlag. Die vollständige Dokumentation des Prozesses wurde schließlich 1999 veröffentlicht und bildete die Grundlage für die Publikation „Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzte-Prozess und seine Folgen“. Die Bundesärztekammer weigerte sich, die Edition finanziell zu unterstützen, so dass das Buch erst mit Hilfe der Einzelspenden von 8.000 Ärzten erschien. Die Ärzteschaft hat sich erst spät – fast zu spät – mit ihrer Verstrickung mit den NS-Verbrechen auseinandergesetzt, schreibt die Ärztezeitung Ende 2018. Es fehlte der Mut, die Täter tatsächlich mit ihren Verbrechen zu konfrontieren, kommentiert der Präsident des Zentralrates der Juden Dr. Josef Schuster dieses Defizit. Die Vorsitzende der Vertretung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Petra Reis-Berkowicz, forderte 2018 auf einer Gedenkfeier zur Reichspogromnacht in Berlin die aktive Beschäftigung mit der NS-Geschichte und auch mit der Tatsache, dass die nichtjüdische Ärzteschaft während des NS-Regimes schwere Schuld auf sich geladen habe. Die begonnene wissenschaftliche Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Ärzteschaft werde fortgesetzt.

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