Frühzeitige Nazi-Machtbeteiligung

geschrieben von Joachim Aust

14. Oktober 2020

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Eine wichtige Lehre aus dem deutschen Faschismus ist der Prozess seiner Herausbildung innerhalb der Demokratie. Damit verbunden war die frühzeitige Tolerierung und Machtbeteiligung der Nazis ab 1929.

Bei der sächsischen Landtagswahl am 12.05.1929 erhöhte die NSDAP ihrer Mandatszahl von zwei auf fünf. Mit Hilfe der NSDAP, die eine rechtsbürgerliche Regierung tolerierte, stellte künftig die DVP den sächsischen Ministerpräsidenten. Am 23.06.1929 errang die NSDAP bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Schwerin  zwei Mandate und konnte mit 4,1 Prozent der abgegeben Stimmen ihren Wähleranteil mehr als verdoppeln. Neben Gauleiter Hildebrandt waren nun mit dem Rechtsanwalt Friedrich Steinfatt der Schweriner Ortsgruppenleiter und der Rechtsvertreter der Gauleitung im Landtag vertreten. Die übrigen Parteien konnten allein keine Landesregierung bilden. In den folgenden Tagen erhandelte die NSDAP-Gau-Leitung eine Tolerierungsvereinbarung, nach der am 10.07.1929 der Rittergutsbesitzer Karl Eschenburg (DNVP) als Chef einer Minderheitsregierung zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Wie von der NSDAP Mecklenburg-Lübeck verlangt, wurden daraufhin am 15.09.1929 fünf verurteilte Feme-Mörder aus der Haft entlassen.

Am  01.09.1929 verübten Mitglieder der „Landvolkbewegung“ als Organisation schleswig-holsteinischer Bauern, die 1928 nach Bauernprotesten gegen deren zunehmende Verelendung entstanden, eine Bombenanschlag gegen den Reichstag – mit Unterstützung von Rechts-Terroristen aus den ehemalige Freikorps. Ein Korruptionsskandal, in den neben dem Berliner Oberbürgermeister Böß (DDP) auch SPD-Vertreter verwickelt waren, nutzen die Nazis im September 1929, um gegen die angeblich käuflichen Bonzen und deren Republik zu agitieren.

Schließlich sorgte der Börsencrash mit dem schwarzen Freitag im Oktober 1929 zum Zusammenbruch der Aktienkurse in New York und die weltweiten Auswirkungen auf die Finanzmärkte zu einer Verschärfung der beginnenden Wirtschafts- zur Weltwirtschaftskrise. Davon war die deutsche Wirtschaft besonders betroffen. Zu den Reparationsleistungen aus dem 1. Weltkrieg kam nun der Mangel an Devisen zum Einkauf der dringend benötigten Rohstoffe. Damit brachen kleine, mittlere und große Unternehmen und Banken zusammen. Die beginnende Massenarbeitslosigkeit konnte durch die Sozialbereiche des Staates weder aufgefangen noch in ihrer katastrophalen Wirkung begrenzt werden. Die nachlassende Kaufkraft schwächte den Binnenmarkt. Die Landwirtschaft, in der bereits zuvor Krisenzeichen erkennbar waren, wurde massiv in die Krise hineingerissen. Zurückgehende Steuern führten zu einer ständig nachlassenden Fähigkeit des Staates, seinen Aufgaben gerecht zu werden. Aus der Wirtschaftskrise wurde eine Staats- und Gesellschaftskrise.

Die Nazis nutzen das für Ihre Propaganda. Sie beschrieben die Krise, nannten als einzige Ursache das „Weimarer System“ und suggerierten den Menschen, die NS-Machtergreifung, die „Reinigung des Staates“ von den Marxisten, „Novemberverbrechern“ und Juden, der Aufbau eines starken, wehrhaften Staates würden „Arbeit und Brot“ schaffen. So lautete auch die zentrale NS-Losung in diesen Jahren in allen Wahlkämpfen, bei allen ihren politischen Veranstaltungen. Zugleich wurde den Bauern, die auf Grund von Krise und Steuerlast ihre Betriebe überschulden mussten, die „Brechung der Zinsknechtschaft“ versprochen. Zur Gewinnung der Großgrundbesitzer hatte man die bisherige NS-Forderung nach einer Bodenreform nun für unrechtmäßig erworbenen oder schlecht verwalteten Grundbesitz umgeschrieben. Den Händlern wurde die Beseitigung der großen Warenhäuser versprochen. Ein konkretes, nachvollziehbares Wirtschaftsprogramm wurde den Deutschen von den Nazis nie vorgestellt. Die Menschen sollten an den „Führer“ glauben. Für die Gegner und die Zweifler kamen die Schläger- und Mördertrupps von SA und SS zum Einsatz.

Die NSDAP und ihre Organisationen wurden erheblich von deutschen Großunternehmern finanziert, wie Emil Kirdorf, Fritz Thyssen, Albert Voegler sowie Bankiers wie Baron Kurt von Schroeder, die in den Nazis das kleinere Übel gegenüber einer möglichen kommunistischen Machtergreifung sahen. Ihnen hatte Hitler in diesen Jahren glaubhaft versichert, dass weder das Wort „sozialistisch“ noch das von der „Arbeiterpartei“ ernst gemeint seien. Die sich enorm verschlechternde Lebenslage und die große Zukunftsangst angesichts von drei Millionen Arbeitslosen begünstigte bei breiten Volksmassen den ständig zunehmenden Einfluss der Rechtsradikalen. Insbesondere die NSDAP hatte nun wachsende Mitgliederzahlen und deutlich zunehmende Mandatsgewinne bei den folgenden Wahlen zu verzeichnen. Mehr als 16.000 Menschen drängten am 10.09.1930 zum Berliner Sportplast, um Hitlers Rede gegen „Hochfinanz und Kapitalismus“ zu hören. Bei der Reichstagswahl knapp zweieinhalb Jahre zuvor war seine Partei mit 2,6 Prozent noch weit abgeschlagen gewesen. Jetzt hatte er ein leichtes Spiel, wenn er gegen die „politischen, wirtschaftlichen und moralischen Bankrotteure“ wetterte. Der Weg zur legalen Machtübernahme im Januar 1933 war geebnet.

Axel Holz zum Tag der Erinnerung und Mahnung am 12. September 2020 in Rostock

geschrieben von Axel Holz

13. September 2020

In diesem Jahr begehen wir den 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Viele der geplanten Feierlichkeiten haben wegen der CORONA-Krise nicht wie geplant stattgefunden oder sind komplett ausgefallen. Immerhin gab es zahlreiche Gedenkveranstaltungen in KZ-Gedenkstätten und das vielfache Gedenken einzelner Akteure an den Gedenk- und Erinnerungsorten an die Verbrechen des Naziregimes und seine Opfer in unserem Land, an Befreiung, Widerstand, selbstlose Hilfe und Verweigerung. Denken wir nur an den Widerstand der jüdischen Häftlinge in vielen Konzentrationslager. Am 2. August 1943 war beispielsweise bis zu 800 Häftlingen bei einem Aufstand im Vernichtungslager Treblinka die Flucht gelungen. Dieser gelungene Aufstand zeugt neben andere KZ-Aufständen vom Widerstandswillen der jüdischen Häftlinge.

75. Jahre nach der Befreiung vom Faschismus stellt sich erneut die Frage nach dem Sinn dieses Gedenkens. In der Erinnerungskultur unseres Landes ist sehr viele Positives passiert seit Bundespräsident Weizsäcker 1985 in Westdeutschland erstmals von Befreiung gesprochen hat. In der DDR hatten der Begriff der Befreiung und der Tag der Befreiung da bereits eine Jahrzehnte lange Tradition, auch wenn die Darstellung von Opfern und Widerstand gegen den Faschismus einige Lücken und Einseitigkeiten aufwies.

Wir meinen, dass der Sinn des Gedenkens an die Befreiung vom Faschismus nicht nur heute noch gegeben ist, sondern dringender denn je ist. Faschistische und rechtspopulistische Gruppierungen sind nicht nur in Deutschland, sondern europaweit auf dem Vormarsch. Diskriminierende Einstellungen gegen Ausländer, Migranten und Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und ethnischer Herkunft haben zugenommen.

Die Diskussion um die jeweils zeitlich und örtlich richtigen CORONA-Maßnahmen haben die Hemmschwelle für viele besorgte und verängstigte Bürgerinnen und Bürger weiter herabgesetzt, gemeinsam mit Nazis, Antisemiten und Verschwörungstheoretikern im Schulterschluss zu demonstrieren und deren Inhalte und Aktivitäten damit aufzuwerten. Gleichzeitig haben rechte Gewalttaten bis zum Mord nicht ab-, sondern zugenommen – mit dutzenden Opfern des NSU und rassistischen Morden in Halle und Hanau. Heute ist die antifaschistische Einheit der Demokraten dringender denn je zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Zugleich möchten wir mit dem 75. Jahrestag der Befreiung im Jahr der Befreiung an die Ziele der alliierten Aufarbeitung des Faschismus vor 75 Jahren erinnern, wie sie sich in den Ergebnissen der Potsdamer Konferenz wiederfinden. Diese Ziele kann man auch in einer Ausstellung im Cecilienhof in Potsdam verfolgen, die ich sehr empfehlen kann. Die Ziele der Alliierten in Potsdam waren die Dezentralisierung Deutschlands zusammen mit einer Demonopolisierung der Wirtschaft. Ziele waren außerdem die Demilitarisierung, die Denazifizierung und die Demokratisierung Deutschlands.

Diese Ziele wurden teilweise unterlaufen – durch die Abkehr von der Zielstellung der Zerschlagung der Rüstungs- und Kriegsmonopole und durch die Rehabilitierung der Nazis im Staatsapparat sowie durch die Nichtverfolgung vieler Kriegsverbrecher. Die Vision der Buchenwaldhäftlinge in ihrem Schwur nach der Befreiung, eine Welt des Friedens und der Freiheit zu errichten, ist bis heute nicht erfüllt. Kriege gehören auch im 21. Jahrhundert zum weltweiten Alltag und Freiheit gibt es vielerorts gar nicht –  und nicht selten nur, wenn man sie sich leisten kann.

75 Jahre Befreiung vom Faschismus sollen uns aber auch daran erinnern, dass mit den von den Alliierten beschlossenen Kriegsverbrecherprozessen erstmals Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet wurden und diese Ahndung zum Maßstab der Rechtsprechung in vielen Ländern gemacht wurde –  speziell auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der ist auch für Verbrechen verantwortlich, die außerhalb Europas begangen wurden. Wir müssen feststellen, dass dieser Forstschritt und die Glaubwürdigkeit bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen insbesondere durch das Verhalten der USA derzeit eher untergaben als befördert wird.

75 Jahre Befreiung vom Faschismus bedeutet auch der Beginn eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa, das bis heute Bestand hat. Mit der UNO hat ein System der Friedenssicherung in der Welt Einzug gehalten hat, nachdem der Völkerbund als folgenloser Debattierklub sträflich versagt hatte.

Es gilt heute mehr denn je, dieses System der kollektiven Sicherheit zu erhalten und zu verteidigen. Das System der Friedenssicherung kann ein Garant sein, um wirksam neuem Nationalismus und damit auch neuen Kriegsgefahren entgegenzuwirken.

75 Jahre Befreiung vom Faschismus bedeuten, das Frieden und Freiheit heute aktiv, partei- und konfessionsübergreifend verteidigt werden müssen – gegen Rassismus, gegen neuen Nationalismus, gegen Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit.

In diesem Sinne wünsche ich uns ein aktives Jahr im Gedenken an die Befreiung vom Faschismus. Es geht darum, eine der zentralen Grundlagen unserer Demokratie zu bewahren und umzusetzen – wie der ehemalige Bundeskanzler Schröder den Schwur der Häftlinge von Buchenwald in einer Gedenkrede nannte.

Lesung über Antisemitismus in den Seebädern

geschrieben von Axel Holz

27. August 2020

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Am Donnerstag, den 3. September, um 19 Uhr, lädt die Autorin Dr. Kristine von Soden zu einer Lesung ihres 2018 erschienenen Buches „Ob die Möwen manchmal an mich denken? – Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee“ im Kunstkaten Ahrenshoop ein. Kristine von Soden berichtet über die Geschichte der Bäder-Antisemitismus. Mit dem Aufstieg der Seebäder im Kaiserreich kam sogleich auch der „Bäder-Antisemitismus“ auf den Plan. „Judenrein!“ lautete an der deutschen Ostseeküste die Parole, lange bevor der NS-Staat Wirklichkeit geworden war. Einlass ist ab 18.30 Uhr. Tickets für 8 Euro gibt es in der Kurverwaltung oder online unter www.ostseebad-ahrenshoop.de/tickets.

„Die Rosenburg – Das Bundesjustizministerium im Schatten der NS-Vergangenheit“

geschrieben von Dokumentationszentrum Prora

2. August 2020

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Die Ausstellung „Die Rosenburg – Das Bundesjustizministerium im Schatten der NS-Vergangenheit“ ist Teil der Aufarbeitung der Geschichte des Justizministeriums. Ein Team von Wissenschaftlern unter der Leitung des Historikers Prof. Manfred Görtemaker und des Juristen Prof. Christoph Safferling hat seit 2012 im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) mit dem „Rosenburg-Projekt“ untersucht, wie das Justizministerium in den 1950er und 60er Jahren mit der NS-Vergangenheit seiner Mitarbeiter, den personellen und sachlichen Kontinuitäten, der Verfolgung von Verbrechen im Zusammenhang mit dem Holocaust sowie mit Amnestie und Verjährung umging. Die Ergebnisse des Abschlussberichts „Die Akte Rosenburg“ wurden in einer Wanderausstellung erstmals 2017 vorgestellt. Diese gliedert sich in neun Bereiche, die durch Stelen und Multimedia-Inhalte repräsentiert werden. Sie nähern sich u.a. durch Biographien oder Original-Aussagen dem jeweiligen Thema an. Ziel dieser Ausstellung ist es, die Erkenntnisse der „Akte Rosenburg“ einem breiten Publikum vorzustellen und dadurch das Bewusstsein für das historische Unrecht zu schärfen.

Die Ausstellung ist vom 24.07. bis 11.10.2020 im Dokumentationszentrum Prora zu sehen.

PEN Deutschland solidarisiert sich mit der VVN-BdA

27. Juli 2020

Der deutsche PEN protestiert gegen die Entscheidung eines Berliner Finanzamts, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen, der ältesten und größten antifaschistischen Organisation Deutschlands, die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Die VVN-BdA, die 1947 von ehemaligen KZ-Häftlingen gegründet wurde, ist bis heute eine wichtige Kraft nicht nur im Bereich „Erinnerungskultur“, sie ist auch aktiver Part in Bewegungen gegen Rassismus, Fremdenhass und andere Bedrohungen der Demokratie.

 

Keine neuen Mythen zum Kriegsende

geschrieben von Axel Holz

17. Juli 2020

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Im Güstrower Anzeiger der SVZ und der Welt vom 13.07.2020 wird eine Studie des Rostocker Historikers Dr. Ingo Sens gewürdigt, die den angeblichen Mythos von der kampflosen Übergabe der Stadt Güstrow am 2.Mai 1945 widerlegen soll. Es wird von Artilleriefeuer, geringen Schäden, mehreren Toten beim Einmarsch der Roten Armee und anschließenden Plünderungen, Vergewaltigungen und vielfachen Selbstmorden gesprochen. Alles dies sind nach den Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte erschütternde Tatsachen des von den Deutschen initiierten und geführten Eroberungs- und Vernichtungskrieges, aber keine Neuigkeiten. Schwierig wird es, wenn in der Ankündigung der Studie wichtige Zeitzeugenbelege unberücksichtigt bleiben und nach alten Mythen nun ein neuer Mythos von den angeblich untätigen Güstrowern gesponnen wird, die alle nur Opfer des Krieges waren. Viele haben das Kriegsende als Zusammenbruch empfunden, nicht nur der alten Ordnung sondern auch ihrer Ideale. Aber eben nicht alle. In Güstrow wurden auch Zwangsarbeiter befreit und rumänische Zwangsarbeiter waren bei der Einnahme Güstrows durch Truppen der roten Armee dabei. Darunter auch die in Güstrow wohnende ukrainische Dolmetscherin Slata Kowalewskaja, die bei nicht autorisierten Übergabeverhandlungen von Wilhelm Beltz zur kampflosen Übergabe der Stadt Güstrow übersetzte. Beltz war zunächst Direktor des Arbeitsamtes in Güstrow, seit 1930 Geschäftsführer des landwirtschaftlichen Arbeitgeberverbandes und sieht sich in den Auseinandersetzungen mit den Nazis ab Beginn der 30er Jahre selbst als besondere Stütze der liberalistischen Weltanschauung. Er stand in Kontakt mit anderen Persönlichkeiten, die die Nazis ablehnten und regelmäßig ausländische Sender abhörten. So mit dem früheren Landrat und SPD-Landtagsabgeordneten Wilhelm Höcker, dem KPD-Mitglied Herbert Warnke, dem Mitglied der bekennenden Kirche Pastor Sibrand Siegert und dem Gutsbesitzer Dr. Wendhaus. Für sie alle war das Kriegsende sicher willkommen.

Anfang April 1945 wurde der sogenannte Flaggenbefehl erlassen. Er verbot das Heraushängen weißer Flaggen und bedrohte die betreffenden Akteure mit sofortiger Hinrichtung. Am 30. April erfuhr Beltz vom Güstrower Standortkommandanten Staudinger von der Besetzung Malchins durch die „Russen“, wie er in einem 32 Text zur Besetzung Güstrows später niedergeschrieben hat. Der neu ernannte Stadtkommandant, Oberst Nobis, sollte die Stadt nun bis zur letzten Patrone verteidigen, obwohl in der Stadt täglich neue Flüchtlinge ankamen und zahlreiche Verletzte untergebracht waren. Beltz führte daraufhin ein Gespräch mit Stadtbaurat Richter, um zusammen mit dem in Schwerin ansässigen General Ulex auf Stadtkommandant Nobis einzuwirken, die abrückenden Truppen nicht durch die Stadt zu führen, sondern an Güstrow vorbeizuleiten, was auch gelang. Über eine Bekannte im Postamt Plaaz nahm er telefonischen Kontakt zur einrückenden Roten Armee auf, um eine kampflose Übergabe anzubieten, die aber nicht mit der Stadt abgesprochen war. Im direkten Gespräch in Plaaz übersetzte die Dolmetscherin Slata Kowalewskaja, auch als Offiziere sie weiter nach Malchin fuhren, um die Folgen des bewaffneten Widerstands zu zeigen, die auch Güstrow drohten. Dort hatte es aus der Stadt heraus gegen die anrückenden sowjetischen Truppen bewaffneten Widerstand gegeben. Ein sowjetischer Regimentskommandeur und sein Adjutant waren nach Angaben russischer Offiziere als Parlamentarier erschossen worden. Danach brannte ein Teil der Stadt. Gleiches wollte Beltz verhindern, hatte aber keinen Kontakt nach Güstrow, so dass er selbst mit seiner Dolmetscherin mit dem Auto nach Güstrow fuhr und zeitgleich mit sowjetischen Truppen aus anderer Richtung eintraf. Die wurden nun nach seiner vorübergehenden Festnahme zumindest über die laufenden Gespräche informiert. Else Grüner hat dazu in einem Erinnerungsbericht 1986 belegt, dass ihr Ehemann Pastor Grüner noch vor dem Einmarsch der roten Armee beim Stadtkommandanten eine Eingabe zur kampflosen Übergabe der Stadt machte, die nach einem langen Gespräch tatsächlich zu einer Einigung geführt habe und Parlamentarier der Stadt den sowjetischen Truppen entgegenfuhren. Danach empfingen diverse Politiker, Pastor Siegert und Pastor Grüner den russischen Kommandanten im Güstrower Rathaus. Diese Umstände des Einmarsches der sowjetischen Truppen in Güstrow und das beherzte und für sie zugleich gefährliche Eingreifen einiger Güstrower Akteure haben sicher ähnliche Opfer und Zerstörungen wie in Malchin später in Güstrow verhindert. Daran sollte auch 75 Jahre nach Kriegsende erinnert werden. Darunter an Slata Kowalewskaja, die am 31.10.1997 die Güstrower Ehrenbürgerschaft erhielt.

Anmerkung der Redaktion am 24.08.2020:

Die Redaktion wurde nach Erscheinen dieses Artikels darauf aufmerksam gemacht, dass die hier erwähnten Quellen zum Kriegsende Dr. Sens bekannt seien und in seine Studie zur Geschichte Güstrows Eingang gefunden hätten. Wir verweisen darauf, dass sich unsere Kritik ausschließlich auf die oben angegebenen Medien zur Ankündigung dieser Studie bezieht. Inwiefern, die genannten Quellen in die Studie zur Geschichte Güstrows eingegangen sind, können wir noch nicht beurteilen, weil uns die Studie noch nicht vorliegt. Im Güstrower Anzeiger vom 13.07.2020 heißt es bei der Ankündigung der Studie zu Dr. Sens: „Der Güstrower Ehrenbürgerin Slata Kowaleskaja weist er bei den Vorgängen zum 1. Mai 1945 eine eher marginale Rolle zu.“ Die oben genannten Dokumente belegen hingegen, dass die Ukrainerin eine wichtige Rolle für die Kontaktaufnahme zur Roten Armee und letztlich auch zur kampflosen Übergabe der Stadt gespielt hat. Dr. Sens hat der Darstellung in der SVZ nach unserer Kenntnis bisher nicht widersprochen.

Potsdamer Konferenz: Für eine Nachkriegsordnung ohne Faschismus

geschrieben von Ulrich Schneider

17. Juli 2020

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Vor 75 Jahren, am 17. Juli 1945, begann die Potsdamer Konferenz der alliierten Siegermächte. Wie auf der Konferenz von Jalta beschlossen, definierten die Kräfte der Anti-Hitler-Koalition nach der militärischen Zerschlagung des deutschen Faschismus die Grundlagen für ein friedliches Nachkriegs-Europa. Die Unterhändler Großbritanniens, der Sowjetunion und der USA formulierten Bedingungen jener europäischen Nachkriegsordnung, die dazu beitragen sollten, dass nie wieder Faschismus und Krieg von deutschem Boden ausgehen können.

Die Ziele waren die Vernichtung des militärischen Potenzials des deutschen Faschismus und Aufbau einer gesellschaftlichen Ordnung auf der Basis von Denazifizierung, Demilitarisierung, Demonopolisierung/ Dezentralisierung und Demokratisierung. Dies entsprach auch dem Willen aller antifaschistischen Kräfte, die in ihren Ländern für die Befreiung vom Faschismus gekämpft hatten.  Geregelt wurde die Wiederherstellung der Souveränität der vorher okkupierten Länder sowie eine territoriale Neuordnung in Mitteleuropa, insbesondere die Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze. Verbunden damit war auch die Umsiedlung von Teilen der deutschen Bevölkerung, was revanchistische Kreise insbesondere in Deutschland bis heute als „Vertreibung“ denunzieren.  Zum Abschluss der Verhandlungen unterzeichneten der britische Premierminister Attlee sowie der sowjetische Staatschef Stalin und der amerikanische Präsident Truman als Repräsentanten der Siegermächte dieses Dokument. Dieser Vertrag, dem später auch Frankreich beitrat, bildet bis heute das rechtliche Gerüst der europäischen Nachkriegsordnung.

Auch wenn man festhalten muss, dass – mit dem aufkommenden Kalten Krieg – wichtige Aspekte des antifaschistischen Neuanfangs insbesondere in den Westzonen nicht umgesetzt wurden, so bleibt für uns als internationale antifaschistische Organisation das Potsdamer Abkommen bis heute von herausragender Bedeutung. Denn es
•    kennzeichnet den verbrecherischen Charakter der faschistischen Organisationen und Institutionen, wie er im Nürnberger Prozess auch juristisch nachgewiesen wurde,
•    gewährleistet bis heute insbesondere die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze,
•    wehrt damit alle revanchistischen Ansprüche insbesondere gegenüber Polen und der Tschechischen Republik ab,
•    benennt zudem die Verantwortung der großen Industrie, der Banken und Konzerne im Deutschen Reich für die faschistischen Verbrechen und steht somit quer zu allen Versuchen der geschichtsrevisionistischen Umdeutung,
•    definiert die politischen Grundlagen einer antifaschistisch-demokratischen Neuordnung in Deutschland,
•    ist das Dokument der siegreichen Anti-Hitler-Koalition, die getragen war von den militärischen Einheiten der Armeen und dem antifaschistischen Befreiungskampf der Völker.

Die FIR und ihre Mitgliedsverbände verteidigen die Ideen des Potsdamer Abkommens gegen alle Ansätze des Wiedererstarkens von Faschismus und Antikommunismus insbesondere in mittel- und osteuropäischen Staaten und gegen alle Versuche, die Geschichte des zweiten Weltkriegs zu verfälschen. Es darf niemals hingenommen werden, Hitler mit Stalin, Faschismus mit Sozialismus, die faschistischen Mörder und deren Opfer gleichzusetzen, wie es in der skandalösen Resolution des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 geschah. Die Völker Europas, die die Folgen des deutschen imperialistisch-faschistischen Krieg tragen mussten, dürfen solche Geschichtsrevision durch die Fälschung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges nicht hinnehmen. Für die FIR und ihre Mitgliedsverbände ist die Erinnerung an das Potsdamer Abkommen eine Verpflichtung, dem Wiederaufleben von faschistischen Gruppen und Ideologien sowie allen Formen der Verfälschung der Geschichte des antifaschistischen Kampfes offensiv entgegenzutreten.

Die VVN-BdA MV trauert um William Wolff

geschrieben von Axel Holz

9. Juli 2020

Die VVN-BdA MV trauert um den langjährigen Landesrabbiner William Wolff. Mit seiner engagierten Arbeit hat er ein Stück jüdischer Religion und Kultur nach Mecklenburg-Vorpommern zurückgebracht,
die die Nazis mit der Vernichtung eines Großteils der europäischen Juden auslöschen wollten. William Wolff war ein kluger, großherziger Mensch und er war ein Meister des Wortes.
Das hat er gezielt eingesetzt, um  regelmäßig am 9. November in Schwerin an die Verbrechen der Nazis zu erinnern und an unsere Verantwortung als Demokraten, uns Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus entgegenzustellen.
Er war ein optimistischer Mensch und hatte großes Vertrauen in die Demokratie, wenn er immer wieder daran erinnerte, dass trotz neuer nazistischer und rassistische Kräfte in der Gesellschaft die demokratischen Wahlen eine überwältigende Gegenposition der Demokraten
dokumentieren.
William Wolff war offen für alle demokratischen Kräfte im Land, auch für die VVN-BdA, mit der er in Schwerin in Kontakt stand. Mit seiner überzeugenden Persönlichkeit hat er die ihm wichtigen Entscheidungen souverän getroffen.
So hat William Wolff die Wiedereinweihung der Gedenkstätte für deutsche Ärzte in Spanien 1936-1939 bei Ückermünde  mit einer Rede begleitet, mit der der Einsatz jüdischer Ärzte im Spanienkrieg auf republikanischer Seite gewürdigt wird. Die Gedenkstätte wurde von der Rostocker VVN-BdA und der Stadt Uckermünde mit Spenden verlegt, saniert und mit der Herausgabe eines Kataloges der Öffentlichkeit bekannt gemacht. 2010 nahmen Schüler des Gymnasiums Ückermünde unter dem Motto „Geschichte lebt“ das Thema „Deutsche Ärzte im Spanischen Krieg“ auf und suchten im Rahmen einer Bildungsreise in Spanien nach Spuren, organisiert vom Verein Tachilles e.V. und finanziell unterstützt von der VVN-BdA MV.  Das Denkmal für die jüdischen Ärzte bei Ückermünde wurde leider bis heute nicht in den Gedenkstättenkatalog des Landes aufgenommen.

Günter Pappenheim – Zum 75. Jahrestag der Befreiung und Selbstbefreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 2020

geschrieben von Günter Pappenheim

7. Juli 2020

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Liebe Kameradinnen und Kameraden, liebe Freundinnen und Freunde, Weggefährten, meine Damen und Herren!

In einer außergewöhnlichen Situation äußere ich mich. Die Corona – Pandemie hat die Welt in den Griff genommen. Um Menschen vor dem Virus Corvid-19 zu schützen, sind vielfältige Maßnahmen getroffen worden.

Unter diesen Bedingungen über die Befreiung der Häftlinge des faschistischen deutschen Konzentrationslagers Buchenwald zu sprechen, ohne in die Gesichter der Menschen sehen zu können, die angesprochen werden sollen, ist für mich eine neue Situation. Es wird keine herzlichen, kameradschaftlichen Begrüßungen, keine Begegnungen geben, keine Gespräche miteinander werden geführt werden können.

Wenn ich in der Vergangenheit über meine Entwicklung, meine Erlebnisse und Erfahrungen sprach, war es mir immer besonders wichtig, in die Gesichter zu sehen und auch auf diese Weise den sozialen Kontakt herzustellen.

Der soziale Kontakt hat für mich so große Bedeutung, weil er mir nach meiner Einweisung in das Konzentrationslager Buchenwald das Leben rettete. Ich, der wenig Erfahrene, neunzehnjährige politische Häftling, wäre gnadenlos dem Mordterror der SS ausgeliefert gewesen, hätten mir nicht erfahrene Kameraden beigestanden. Noch heute verneige ich mich vor dem Sozialdemokraten Hermann Brill und dem Kommunisten Eduard Marschall, die mich im Kleinen Lager ausfindig machten und mit dafür sorgten, dass ich ins Hauptlager kam. Ich verneige mich vor Hermann Schönherr und Walter Wolf, die mutig und uneigennützig solidarisch als Kapos Leben von anderen Kameraden beschützten – auch mein Leben. Und ich erinnere mich in Dankbarkeit an den Stubendienst im Block 45, den österreichischen Häftling Fritz Pollak, der für mich eine Schlafstelle fand. Es handelte sich bei allen Genannten um politische Häftlinge, die zum organisierten politischen Widerstand im KZ Buchenwald gehörten, der unter größter Geheimhaltung sein Bemühen darauf richtete, gegen die Bestien der SS ein humanistisches internationales Schutzschild zu schaffen.

Unser Kamerad und langjähriger Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald – Dora und Kommandos, der französische Kommunist Pierre Durand sagte: »Es gab viele Buchenwald«. Ja, es gab auch das Buchenwald des organisierten antifaschistischen Widerstands. Das darf nicht vergessen werden. Diese Mahnung am fünfundsiebzigsten Jahrestag der Befreiung und Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ Buchenwald ist sehr aktuell.

Als am 11. April 1945 mein Vorarbeiter, der Dresdener jüdische Kamerad Leonhard in die Gerätekammer mit der Nachricht stürzte, er hätte Häftlinge mit Waffen im Lager gesehen, die sich in Richtung Haupttor bewegten, glaubte ich ihm zunächst nicht. Dann aber sah ich das mit eigenen Augen und meinte zu träumen. Aus dem Traum riss mich das Wort »Kameraden«. Aus den Lautsprechern war das zu hören, aus denen soeben noch Kommandos gebrüllt worden waren, die den Tod bedeuten konnten. Nun sprach der Lagerälteste Hans Eiden: »Kameraden! Wir sind frei!« Diese wenigen Worte erschütterten mich.

Durch das geöffnete Haupttor mit der zynisch gemeinten Inschrift »Jedem das Seine« ging ich, nein, ich schritt erstmals als freier Mensch.

Die Inschrift war zum Bumerang für die SS-Täter geworden. Es gelang nicht, alle zur Verantwortung zu ziehen und nicht wenige blieben straflos.

Dann kam der 19. April 1945, das Totengedenken auf dem Appellplatz. Wo sich heute die Gedenkplatte befindet, war ein schlichter hölzerner Obelisk errichtet und vor diesem traten blockweise die 21.000 Überlebenden an, um im Gedenken an die 51.000 Toten (später musste die Zahl auf 56.000 ergänzt werden) den Schwur zu leisten mit der Grundaussage:

      »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere     Losung. Der Aufbau   einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.«

Für viele von uns ehemaligen Häftlingen wurde dieser Schwur lebenslang verbindlich, ein Kompass für das künftige Leben, ein Programm für die Lebensgestaltung.

Ich habe geschworen, meine Schwurhand gehoben. Ohne Einschränkung stelle ich hier fest: Niemand hat das Recht, den Wortlaut des Schwurs von Buchenwald missverständlich zu deuten! Niemand!

Genauso wie niemand das Recht hat, etwa der Sixtinischen Madonna von Raffael den Faltenwurf zu korrigieren.

Mit der Erfahrung von Buchenwald und im Bewusstsein der Kraft der Solidarität trat ich am 1. August 1947 in die interzonale Organisation Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) ein. Deren politische Arbeit war auf die Verwirklichung der programmatischen Sätze des Schwurs von Buchenwald gerichtet – und ist es immer noch.

Dass dieser größten deutschen Verfolgtenorganisation fünfundsiebzig Jahre nach der Befreiung vom deutschen Faschismus in übelster antikommunistischer Tonlage auf Grund infamer Unterstellungen von der Berliner Finanzbehörde die Gemeinnützigkeit entzogen werden konnte, ist ein Skandal erster Güte und eine jeglichen demokratischen Verständnisses hohnsprechende Schande.

Ich habe beim Bundesfinanzminister dagegen protestiert. Er ließ mir mitteilen, dass er über die Entscheidung der Berliner Steuerverwaltung genau so überrascht gewesen sei wie ich und dass er sich die Anzweiflung der Verfassungstreue der VVN-BdA nicht hätte vorstellen können. Zugleich ließ er darauf verweisen, dass Steuerverwaltung Angelegenheit der Länder und alles rechtmäßig vollzogen worden sei. Der Minister, hieß es, hätte um eine Darstellung aus Berlin gebeten. So geschehen im November 2019. Bis heute sind zwar die finanziellen Forderungen an die VVN-BdA ausgesetzt, der Entzug der Gemeinnützigkeit bleibt jedoch aufrechterhalten, wodurch diese antifaschistische Organisation erwürgt und handlungsunfähig gemacht werden soll.

Damit bin ich in der Gegenwart und habe die Jahre des Kalten Krieges übersprungen, der, überwunden geglaubt, sich größter Lebendigkeit erfreut.

Ich bin in einer Gegenwart, die offenbar aus der Vergangenheit zu lernen nicht in der Lage ist. Es gibt erstarkende Kräfte, die Nationalismus und völkisches Denken neu beleben, Rassismus, Fremdenhass, Antisemitismus, Antiziganismus ideologisch befördern. Politische Stagnation und soziale Fehlentwicklungen nutzen sie, um populistisch in die Irre zu leiten. Leider haben sie dabei Erfolge in Parlamenten aller Ebenen – hier, bei uns zu Hause. Der Tabubruch von Erfurt am 5. Februar 2020 war ein Putschversuch im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten. Uns verbietet sich, mit dem Finger auf andere Länder zu zeigen.

Nicht erst seit Bekanntwerden des Terrors des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), der zehn Jahre unerkannt und ungehindert morden durfte, wird uns die Mär vom Einzeltäter aufgetischt, noch dazu von dem in seiner psychischen Entwicklung gestörten. Dass ein gesellschaftlicher Hintergrund und ein ideologisches Umfeld heranwachsen konnten, die entscheidenden Einfluss auf die Motivbildung der Täter hatten, wird geflissentlich unterschlagen.

Der Mord an Walter Lübcke in Wolfhagen, die Morde in Hanau und Halle ebenso wie das Angreifen oder Abfackeln von Flüchtlingsunterkünften (die Aufzählung ließe sich fortsetzen) haben übereinstimmend politische Zielsetzungen. Wenn offen gefordert wird, die Erinnerungskultur in Deutschland um 180 Grad zu wenden und die Verbrechen der deutschen Faschisten zum »Vogelschiss« der Geschichte mutieren, so ist das geistige Brandstiftung und Schaffung eines ideologischen Umfelds für politisch motivierte Gewalt.

Die Täter von 209 Morden mit rechtsextremistischem Hintergrund seit 1990 haben einzeln gehandelt, ja, ihre Motivgefüge und ihre Opfer sind sehr ähnlich. Die Drahtzieher unerwähnt und unbeobachtet zu lassen, ist sträflich.

Wir erfuhren dieser Tage, dass das Bundeskriminalamt feststellte, der Mörder von Hanau sei kein »Anhänger einer rechtsextremistischen Ideologie«, schließlich hätte er einem »dunkelhäutigen Nachbarn« mehrfach geholfen und in einer Fußballmannschaft mit mehreren Mitspielern mit Migrationshintergrund zusammen gespielt. So schlicht denkt man im Bundeskriminalamt und nach Kritik wird man dieses Denken rechtfertigen. Eine reale rechtsextreme Tat, aber ein unbescholtener und kein rechter Täter?

Auch das hatten wir in der Geschichte schon.

Warum wohl fällt Verantwortlichen nicht auf, dass es 209 Opfer rechtsextremistischer Gewalt gibt, aber kein Todesopfer linksextremistischer Gewalt bekannt ist, da man große Anstrengungen unternimmt, linken und rechten Extremismus gleich zu setzen?

Polemisch zugespitzt stellt sich die Frage, ob wegen der rechtsextremistischen Verbrechen die Antifaschisten verfolgt werden müssen.

Ich persönlich und meine Mitstreiter in der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora haben immer großen Wert darauf gelegt, mit jungen Leuten ins Gespräch zu kommen, um unser Wissen und unsere Erfahrung zu vermitteln. Bei Gesprächsrunden, Projektwochen in Schulen, Führungen in Buchenwald usw. stellten wir große Aufgeschlossenheit fest. Gleichermaßen konstatierten wir, dass die Vermittlung von Wissen über die Zeit des Faschismus und in dieser Zeit begangene Verbrechen in den Schulen rückläufig und teilweise gar nicht mehr vorhanden ist. Wir sehen einen sehr ernst zu nehmenden Zusammenhang zwischen Zunahme rechtsextremistischer Handlungen und nicht vermitteltem historischen Wissen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf

Am 27. März 2020 hat die Journalistin und Schriftstellerin Daniela Dahn in der Tageszeitung neues deutschland gefordert, dass die bundesdeutsche Politik endlich konsequent aktiv werden muss. Ihre Forderungen zur Kenntnis zu nehmen und zügig zu handeln, entspricht unserer antifaschistischen Grundeinstellung.

Die Tatsache, dass wir den 75. Jahrestag der Befreiung und Selbstbefreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald nicht in gewohnter Weise begehen können, betrübt besonders uns wenige Überlebende.

Für mich – das will ich noch einmal mit aller Deutlichkeit betonen – war der Schwur von Buchenwald ein Leben lang verbindlich. Ich weiß, dass es aus nachfolgenden Generationen Menschen gibt, die nicht aufhören werden, sich um die Verwirklichung des Schwurs zu mühen.

Wenn nach Abklingen der Corona-Krise vieles neu gedacht und gemacht werden muss, fordere ich die Nachkommenden auf:

  • Lasst nicht zu, dass vergessen wird, was in Buchenwald geschah und ordnet es ein in das Furchtbare, was durch die Hitlerfaschisten in der Welt angerichtet wurde.
  • Erinnert und bedenkt die Apriltage 1945 in Buchenwald.
  • Erinnert und bewahrt den Schwur von Buchenwald, denn es gibt keine Alternative zu einer Welt des Friedens, der Freiheit und ohne Faschismus, wenn die Menschheit überleben will.
  • Scheut keine Mühe, wenn es darum geht, den antifaschistischen Konsens immer neu, auch international, zu beleben. Meine Gedanken sind in Buchenwald, bei Euch, bei Ihnen

Günter Pappenheim

Erster Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos

Vorsitzender der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora

Kritik an Geschichtsklitterung in der Sächsischen Gedenkstättenstiftung

6. Juli 2020

Die AG der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik fordert, dass die untragbaren Äußerungen des amtierenden Geschäftsführers der sächsischen Gedenkstätten, Siegfried Reiprich, Konsequenzen haben müssen. Er hatte Krawalle in Stuttgart mit der Reichsprogromnacht der Nazis gleichgesetzt, bei der bekanntlich 800 Jüdinnen und Juden starben, 30.000 Menschen in Konzentrationslager verschleppt wurden und 1.400 Synagogen zerstört wurden. Gleichzeitig verbreite Siegfried Reiprich rassistische Versatzstücke von einer angeblichen zukünftigen „weißen Minderheit“ und stärke damit rechte Diskurse. Dies sei ein Affront gegenüber allen, die sich tagtäglich mit ihrer Arbeit in Gedenkstätten und in der historisch-politischen Bildung gegen Rassismus, Antisemitismus und für demokratische Werte einsetzten, erklärte Josephine Ulbricht, Sprecherin der sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft und Mitarbeiterin der Gedenkstätte für Zwangsarbeit in Leipzig. Eine Stellungnahme der politischen Entscheidungsträger und personelle Konsequenzen forderten auch die Sprecherinnen des Forums der Landesarbeitsgemeinschaften der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und -initiativen in Deutschland und der Sprecher der AG der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Jens-Christian Wagner.

2020-07-01 PM Äußerungen Reiprich-2

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