Keine neuen Mythen zum Kriegsende

geschrieben von Axel Holz

17. Juli 2020

, , , , , ,

Im Güstrower Anzeiger der SVZ und der Welt vom 13.07.2020 wird eine Studie des Rostocker Historikers Dr. Ingo Sens gewürdigt, die den angeblichen Mythos von der kampflosen Übergabe der Stadt Güstrow am 2.Mai 1945 widerlegen soll. Es wird von Artilleriefeuer, geringen Schäden, mehreren Toten beim Einmarsch der Roten Armee und anschließenden Plünderungen, Vergewaltigungen und vielfachen Selbstmorden gesprochen. Alles dies sind nach den Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte erschütternde Tatsachen des von den Deutschen initiierten und geführten Eroberungs- und Vernichtungskrieges, aber keine Neuigkeiten. Schwierig wird es, wenn in der Ankündigung der Studie wichtige Zeitzeugenbelege unberücksichtigt bleiben und nach alten Mythen nun ein neuer Mythos von den angeblich untätigen Güstrowern gesponnen wird, die alle nur Opfer des Krieges waren. Viele haben das Kriegsende als Zusammenbruch empfunden, nicht nur der alten Ordnung sondern auch ihrer Ideale. Aber eben nicht alle. In Güstrow wurden auch Zwangsarbeiter befreit und rumänische Zwangsarbeiter waren bei der Einnahme Güstrows durch Truppen der roten Armee dabei. Darunter auch die in Güstrow wohnende ukrainische Dolmetscherin Slata Kowalewskaja, die bei nicht autorisierten Übergabeverhandlungen von Wilhelm Beltz zur kampflosen Übergabe der Stadt Güstrow übersetzte. Beltz war zunächst Direktor des Arbeitsamtes in Güstrow, seit 1930 Geschäftsführer des landwirtschaftlichen Arbeitgeberverbandes und sieht sich in den Auseinandersetzungen mit den Nazis ab Beginn der 30er Jahre selbst als besondere Stütze der liberalistischen Weltanschauung. Er stand in Kontakt mit anderen Persönlichkeiten, die die Nazis ablehnten und regelmäßig ausländische Sender abhörten. So mit dem früheren Landrat und SPD-Landtagsabgeordneten Wilhelm Höcker, dem KPD-Mitglied Herbert Warnke, dem Mitglied der bekennenden Kirche Pastor Sibrand Siegert und dem Gutsbesitzer Dr. Wendhaus. Für sie alle war das Kriegsende sicher willkommen.

Anfang April 1945 wurde der sogenannte Flaggenbefehl erlassen. Er verbot das Heraushängen weißer Flaggen und bedrohte die betreffenden Akteure mit sofortiger Hinrichtung. Am 30. April erfuhr Beltz vom Güstrower Standortkommandanten Staudinger von der Besetzung Malchins durch die „Russen“, wie er in einem 32 Text zur Besetzung Güstrows später niedergeschrieben hat. Der neu ernannte Stadtkommandant, Oberst Nobis, sollte die Stadt nun bis zur letzten Patrone verteidigen, obwohl in der Stadt täglich neue Flüchtlinge ankamen und zahlreiche Verletzte untergebracht waren. Beltz führte daraufhin ein Gespräch mit Stadtbaurat Richter, um zusammen mit dem in Schwerin ansässigen General Ulex auf Stadtkommandant Nobis einzuwirken, die abrückenden Truppen nicht durch die Stadt zu führen, sondern an Güstrow vorbeizuleiten, was auch gelang. Über eine Bekannte im Postamt Plaaz nahm er telefonischen Kontakt zur einrückenden Roten Armee auf, um eine kampflose Übergabe anzubieten, die aber nicht mit der Stadt abgesprochen war. Im direkten Gespräch in Plaaz übersetzte die Dolmetscherin Slata Kowalewskaja, auch als Offiziere sie weiter nach Malchin fuhren, um die Folgen des bewaffneten Widerstands zu zeigen, die auch Güstrow drohten. Dort hatte es aus der Stadt heraus gegen die anrückenden sowjetischen Truppen bewaffneten Widerstand gegeben. Ein sowjetischer Regimentskommandeur und sein Adjutant waren nach Angaben russischer Offiziere als Parlamentarier erschossen worden. Danach brannte ein Teil der Stadt. Gleiches wollte Beltz verhindern, hatte aber keinen Kontakt nach Güstrow, so dass er selbst mit seiner Dolmetscherin mit dem Auto nach Güstrow fuhr und zeitgleich mit sowjetischen Truppen aus anderer Richtung eintraf. Die wurden nun nach seiner vorübergehenden Festnahme zumindest über die laufenden Gespräche informiert. Else Grüner hat dazu in einem Erinnerungsbericht 1986 belegt, dass ihr Ehemann Pastor Grüner noch vor dem Einmarsch der roten Armee beim Stadtkommandanten eine Eingabe zur kampflosen Übergabe der Stadt machte, die nach einem langen Gespräch tatsächlich zu einer Einigung geführt habe und Parlamentarier der Stadt den sowjetischen Truppen entgegenfuhren. Danach empfingen diverse Politiker, Pastor Siegert und Pastor Grüner den russischen Kommandanten im Güstrower Rathaus. Diese Umstände des Einmarsches der sowjetischen Truppen in Güstrow und das beherzte und für sie zugleich gefährliche Eingreifen einiger Güstrower Akteure haben sicher ähnliche Opfer und Zerstörungen wie in Malchin später in Güstrow verhindert. Daran sollte auch 75 Jahre nach Kriegsende erinnert werden. Darunter an Slata Kowalewskaja, die am 31.10.1997 die Güstrower Ehrenbürgerschaft erhielt.

Anmerkung der Redaktion am 24.08.2020:

Die Redaktion wurde nach Erscheinen dieses Artikels darauf aufmerksam gemacht, dass die hier erwähnten Quellen zum Kriegsende Dr. Sens bekannt seien und in seine Studie zur Geschichte Güstrows Eingang gefunden hätten. Wir verweisen darauf, dass sich unsere Kritik ausschließlich auf die oben angegebenen Medien zur Ankündigung dieser Studie bezieht. Inwiefern, die genannten Quellen in die Studie zur Geschichte Güstrows eingegangen sind, können wir noch nicht beurteilen, weil uns die Studie noch nicht vorliegt. Im Güstrower Anzeiger vom 13.07.2020 heißt es bei der Ankündigung der Studie zu Dr. Sens: „Der Güstrower Ehrenbürgerin Slata Kowaleskaja weist er bei den Vorgängen zum 1. Mai 1945 eine eher marginale Rolle zu.“ Die oben genannten Dokumente belegen hingegen, dass die Ukrainerin eine wichtige Rolle für die Kontaktaufnahme zur Roten Armee und letztlich auch zur kampflosen Übergabe der Stadt gespielt hat. Dr. Sens hat der Darstellung in der SVZ nach unserer Kenntnis bisher nicht widersprochen.