Schwierige Befreiung vom Nazi-Vater

geschrieben von Axel Holz

2. Januar 2020

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Buchcover, Studienverlag Innsbruck

Bewundernd schaut ein zwölfjähriger blonder Junge zu seinem Vater auf dem Foto auf, der ihn wiederum von der Seite stolz und fordernd anblickt. Es ist das Umschlagsbild auf Jens-Jürgen Ventzkis Buch „Seine Schatten, meine Bilder. Eine Spurensuche“, das der österreichische Studienverlag mit Unterstützung des österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und der Stadt Wien bereits 2011 herausgebracht hat. Nun wurde das Buch auf einer Lesereise in Mecklenburg-Vorpommern in Rathäusern und Schulen vorgestellt, organisiert von den Mahn- und Gedenkstätten Wöbbelin, einer Gedenkstätte, die sich ideenreich gedenkstättenpädagogisch dem ehemaligen KZ Wöbbelin widmet und zugleich ein Museum über den umstrittenen Dichter Theodor Körner enthält.

Das Buch ist eine sogenannte Täterbiografie. Der ehemalige Verlagsleiter Jens-Jürgen Ventzki führt darin eine Auseinandersetzung mit seinem Vater Werner Venzki, dem ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt Lodz, das die Nazis „Litzmannstadt“ nannten und in dem sich eines der ersten Gettos befand, in dem Juden interniert und weiter zur Vernichtung nach Auschwitz deportiert wurden. Venzki war auch Gauamtsleiter, Reichsredner, SS-Mann und später führender Funktionär im Bundesvertriebenenministerium. In der BRD stritt er seine Verbindung zum Getto in Lodz ab und entlastete andere SS-Offiziere aus dem Vorzimmer von Adolf Eichmann. Bis zum Lebensende blieb er zusammen mit seiner Frau ein überzeugter NS-Anhänger, Antisemit und Polen-Hasser. Er beschwerte sich kurz vor seinem Tod darüber, dass er in seiner Entnazifizierungsakte „nur“ als Mitläufer beurteilt wurde.

Das Buch berichtet nicht nur über eine vaterlose Gesellschaft vieler Kinder und Jugendlicher nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch über die merkwürdige Abwesenheit der überlebenden Väter. Die hatten ihre Mitwirkung im NS-Regime oft verdrängt. Ihre Kinder ahnten oft lange nichts davon oder wollten nichts davon wissen. So auch Jens-Jürgen Venztki über seinen Vater Werner Ventzki. Der Jurist Werner Ventzki, in Pommern geboren und mit der Region Posen eng verbunden, gehörte zur jungen Garde überzeugter Nationalsozialisten. Zunächst als Leiter eines Wohlfahrtsamtes im Gauamt Stettin tätig, wird er durch Himmler gefördert und wechselt in den Mustergau Warteland über, wo er Aufgaben bei der Zwangsumsiedlung der polnischen und jüdischen Bevölkerung übernimmt. Als Oberbürgermeister von „Litzmannstadt“ ist er auch für das dortige Getto zuständig. Fotos zeigen seine Anwesenheit im Getto zusammen mit SS-Führer Himmler. Er meldete sich 1943 zur Waffen-SS und wurde an der Ostfront eingesetzt. Nach dem Krieg wurde er in Schleswig-Holstein entnazifiziert, einem Sammelbecken für Altnazis. Nach einer Kariere im Vertriebenenministerium starb er achtundneunzigjährig im Jahre 2004.

Jens-Jürgen Ventzki, der den humorvollen Vater als Kind schätzt und zu ihm als ehemaligen Oberbürgermeister aufblickt, stößt in seiner Familie bei näherem Nachfragen auf eisiges Schweigen. In den neunziger Jahren wird er in einer Ausstellung mit einem Dokument und der Handschrift seines Vaters konfrontiert. Es bezieht sich auf die Kleidung der in Chelmno ermordeten Juden, von den Nazis „Kulmhof“ genannt. Aber erst 2001 folgt er fünfzigjährig den Spuren seines Vaters, ein Prozess, der ihn bis heute begleitet. In seiner Familie stieß er dafür auf Unverständnis und Ausgrenzung. Ventzki geht dem verräterischen Dokument nach, dass seinen Vater als Nazi-Täter offenbart. Darin heißt es: „Auf Ihr Schreiben vom 8.5.1942 wegen der gebrauchten Textilien habe ich mit dem Leiter der Gettoverwaltung eingehend gesprochen …Ich nehme an, dass es möglich sein wird, Ihnen auch direkt etwas zur Verfügung zu stellen.“ Im Anschluss verweist Werner Ventzki bürokratisch auf eine fällige Entschädigung für die entstandenen Kosten zur Reinigung der Kleidung der ermordeten Juden. Jens-Jürgen Ventzki geht den Spuren seines Vaters systematisch nach und bereist seine Geburtsstadt, wo sortierte Akten über seinen Vater bereits auf ihn warten. Er findet Kontakt zu Überlebenden des Gettos „Litzmannstadt“ und stößt auf vertrauensvolle Hilfe, die ihm einen hoffnungsvollen Weg zum Umgang mit der Last der Geschichte zeigen. An Hand von Dokumenten, Erinnerungen, Literatur- und Archivstudien in Lodz, Berlin, Ludwigsburg und Jerusalem zeichnet er den Lebensweg seines Vaters nach. Bereits als Amtsleiter im Wohlfahrtsamt beginnt Werner Ventzki über die vermeintlich unnützen Menschen zu fabulieren, die nicht dem Volkswohl dienten. Später trägt er als Oberbürgermeister von Lodz die Oberaufsicht für jene, die nach Auschwitz zur Vernichtung geschickt werden. Während Getto-Leiter Hans Biebow in Polen zum Tode verurteilt wird, macht Werner Ventzki im Westen Karriere. Ein Beispiel für tausende ähnliche Fälle. Das Buch dokumentiert, wie notwendig es auch noch heute ist, sich seiner Geschichte zu stellen und wie quälend und widersprüchlich es dabei sein kann, diesen Anspruch  in der eigenen Familie konsequent zu verfolgen.