Rostock, Heinkel und die deutsche Geschichte – Eine Ausstellung räumt auf mit einem Mythos

geschrieben von Michael Schmidt

5. Januar 2023

Die Hansestadt Rostock ist weithin bekannt für ihre Werften und den Überseehafen. Was außerhalb von Mecklenburg-Vorpommern aber in Vergessenheit geraten sein dürfte, ist die Tatsache, dass Rostock jahrelang auch ein Zentrum des deutschen Flugzeugbaus war. Vor einhundert Jahren, im Dezember 1922, nahm in Warnemünde das erste Flugzeugwerk seinen Betrieb auf. Gegründet von  Ernst Heinkel, einem württembergischen Konstrukteur und Unternehmer. Wichtige Auftraggeber waren von Anfang an deutsche und ausländische Militärs. Es folgte ein rasanter Aufstieg, an dessen Höhepunkt die Heinkel-Werke zum zweitgrößten deutschen Flugzeughersteller wurden. Das Unternehmen stand für Erfindergeist – so kamen der erste serienmäßig eingebaute Schleudersitz für Piloten und das erste Strahltriebwerk aus Rostock. Vor allem aber stand und steht der Name Ernst Heinkel für den Bau von Kriegsflugzeugen und für engste Verflechtung mit dem NS-Staat. „Heinkel in Rostock – Innovation und Katastrophe“ heißt auch folgerichtig eine Ausstellung im Rostocker Kulturhistorischen Museum, die sich diesem wohl umstrittensten Kapitel der Stadtgeschichte widmet. Klar, dass besonders hiesige Mitglieder der VVN BdA diese Ausstellung besuchen wollten. Um es gleich vorweg zu sagen: der Rundgang hatte sich gelohnt. Das lag nicht zuletzt an der sachkundigen Begleitung durch den Kurator Ullrich Klein. Vor allem ihm ist es zu verdanken, dass etliche der historischen Fotografien und Dokumenten  erstmals öffentlich gezeigt werden. Ausführliche Textinformationen sorgen für die notwendige Einordnung. In den vergangenen Jahren gab es auch in Rostock immer wieder Bestrebungen, den Flugzeugbau doch bitte vor allem als Beleg für Erfindergeist und schöpferisches Unternehmertum zu werten. Diese rein technische Betrachtung wird in der Ausstellung faktenreich ad absurdum geführt. Schon die präsentierten Fotos verdeutlichen das. Da zeigt sich Unternehmensgründer Heinkel schon 1933 gut gelaunt neben Nazi-Propagandaminister Goebbels bei einem Werksbesuch. Da erhält er 1938 von Hitler den Nationalpreis. Da bombardieren deutsche Flugzeuge vom Typ He 111 als Teil der berüchtigten Legion Condor spanische Städte, um dem Putschistengeneral Franco zum Sieg zu verhelfen. Nein, Heinkel war kein „Mitläufer“ – er war Teil einer Maschinerie, die einem verbrecherischen Eroberungskrieg diente. Allerdings war das Ausmaß der Verflechtung von Heinkel mit Nazi-Diktatur und Kriegswirtschaft auch für die Besucher der VVN BdA eine neue Erkenntnis. Anfang 1943 schufteten allein in Rostock 1606 Kriegsgefangene für Heinkel. Dazu kamen 6700 verschleppte ausländische Zwangsarbeiter, von deren Ausbeutung Heinkel bestens profitierte. Damit nicht genug. Sein Werk in Oranienburg wurde sogar „Musterbetrieb“ für den Einsatz von KZ-Häftlingen. Besonders brutal muss es in Barth zugegangen sein. Im dortigen Werk wurden 7000 Menschen zur Arbeit gezwungen. Kurator Ullrich Klein: „Zweitausend von ihnen überlebten diesen höllenhaften Ort nicht.“ – Getreu dem Motto: „Vernichtung durch Arbeit“. Wer mag da Heinkel und seinen Flugzeugbau noch als einen „Mythos der Moderne“ glorifizieren? Es stimmt – in der Heinkel-Ära wurde Rostock zur Großstadt, tausende neue Wohnungen entstanden. Nie zuvor fanden so viele Menschen eine qualifizierte Arbeit. Den Preis dafür zahlten nicht nur die anderen. Im April 1942 wurde Rostock Ziel britischer Bombenflugzeuge. Ein Feuersturm vernichtete die Altstadt. Auch die Heinkel-Werke wurden angegriffen. Der Krieg kehrte dorthin zurück, von wo er ausgegangen war – nach Deutschland. Nach dem Krieg durchlief Heinkel in Westdeutschland ein „Entnazifizierungsverfahren“, wurde als „unbelastet“ eingestuft und durfte wieder als Unternehmer aktiv werden. Das Verdienst der Rostocker Ausstellung ist es, ihm und seinem Werk den Platz in der Geschichte zuzuweisen, den sie verdienen. Leider nur zu sehen bis zum 22. Januar. Umso mehr ist der Katalog zur Ausstellung zu empfehlen.