Rede von K. Voigt zum 8. Mai auf dem Platz der OdF in Schwerin

geschrieben von K. Voigt

28. Juni 2022

Ich gehöre zur Generation der Kriegsenkelkinder. Es gibt immer weniger Menschen, die aus eigenem Erleben den Krieg noch kennen, um Zeugnis ablegen zu können.

Wer hätte aber gedacht, dass wir im Jahr 22 des 21. Jahrhunderts wieder in unserem Land Menschen begegnen können, die Krieg aus eigenem Erleben kennenlernen mussten?!

Den 8./9. Mai 1945 hat mein Großvater bereits in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft verbracht. Er war im Kriegsgefangenenlager 168 in Minsk. Was er als Gefreiter an der Ostfront gemacht hat, ob er Schuld auf sich geladen hat, weiß ich nicht und werde es wohl auch nie erfahren. Kaum jemand aus der Wehrmacht hat von seinen Taten und Erlebnissen an der Ostfront berichtet.

Er kam 1948 aus der Kriegsgefangenschaft nach „Hause“, an einen Ort, an dem meine Oma mit meiner Mutter und meinem Onkel auf ihrer Flucht aus Ostpreußen gestrandet war: in Saal am Saaler Bodden.

Als mein Opa später erfuhr, dass ich, seine Enkelin, ab 1978 in Minsk studieren werde, also genau 30 Jahre nach seiner Rückkehr von dort – eine historisch gesehen sehr kurze Zeitspanne -, hat er zumindest angefangen, von seiner Zeit in Minsk zu berichten. Unter anderem erzählte er, dass die jungen Soldaten, die ihn bewachten, oft weniger zu essen hatten als die deutschen Kriegsgefangenen.

Belarus hat im 2. Weltkrieg 1/3 seiner Bevölkerung verloren. Wie die Ukraine erhielt das Land deswegen einen eigenen Sitz in der UNO. Während der 5 Jahre in Belarus hat mich als Deutsche nie jemand schief angesehen, nur eine alte Frau sagte einmal: Kindchen, ich finde Sie ja ganz nett, aber Ihren Eltern will ich nicht begegnen.

Nach meinem Studium kam ich nach Schwerin und war hier u. a. für die Zusammenarbeit der FDJ mit dem Komsomol der Sowjetarmee der Schweriner und der Perleberger Divisionen zuständig.

Es gab keinen 23. Februar, dem Tag der Sowjetarmee, keinen 8. Mai als Tag der Befreiung und 9. Mai als Tag des Sieges und keinen 7. November, dem Tag der Oktoberrevolution, an dem der Schwur, dass es nie wieder Krieg geben darf, nicht erneuert wurde.

Das Erinnern an die Kriegsgräuel, an die 27 Mill. Toten der Sowjetunion, an den Sieg über Hitlerdeutschland war den sowjetischen Menschen immer sehr heilig.

Kein Treffen ohne den Trinkspruch AUF DEN FRIEDEN!, keine Begegnung ohne den Spruch NIEMAND UND NICHTS IST VERGESSEN!

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands vollzog sich der Abzug der Westgruppe der Streitkräfte aus MV bis 1993 und 1994 aus Deutschland mit einer logistischen Meisterleistung.

Ich hatte weiterhin Kontakte mit ehemaligen Offizieren, die in Schwerin dienten. Sie sind jetzt in Russland, Belarus und der Ukraine zu finden – sollen sie nun aufeinander schießen?

Ich bekam Kontakt zum Veteranenverband ehemaliger Militärangehöriger der GSSD in Russland und kenne daher ihre Enttäuschung darüber, dass die USA in Deutschland mit ihren Truppen und Militärstützpunkten verblieben. (Es gibt 11 US-Hauptstützpunkte und Dutzende Nebenstützpunkte in Deutschland, nicht nur Ramstein.)

Ich kenne ihre Fragen: War nicht die Systemkonfrontation zu Ende? War nicht der Kalte Krieg vorbei?

Ich war bei Diskussionen dabei, als die Aufkündigung der Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat durch die NATO 2014 passierte. 2019 gab es nur eine einzige größere halboffizielle Veranstaltung in Berlin, die den 25. Jahrestag des Abzugs der Westgruppe der Streitkräfte würdigte. In Russland wurde sie sehr beachtet, in Deutschland spielte dieser Jahrestag so gut wie keine Rolle.

Die Osteuropa-Freundschaftsgesellschaft MV, deren Landesvorsitzende ich bin, hervorgegangen aus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft der drei Nordbezirke der DDR, hat sich stets die Völkerverständigung und den Frieden auf die Fahnen geschrieben.

Wir sind im Bundesverband Deutscher West-Ost-Gesellschaften. Viele davon hatten ihre Arbeit auf die Freundschaft mit russischen Menschen ausgerichtet, die Vereine stehen jetzt alle vor einem Scherbenhaufen ihrer jahrelangen Arbeit und Bemühungen.

Es ist so bitter, dass all die von uns gelebten zivilgesellschaftlichen Kontakte diesen Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verhindert haben.

Meinst du, die Russen wollen Krieg?

An dieser Stelle auf dem Friedhof der Opfer des Faschismus haben wir oft diese Zeilen von Jewgenij Jewtuschenko zitiert, entstanden in der Zeit des Kalten Krieges und der Kuba-Krise. Und wahrscheinlich hätte jeder von uns hier bis vor Kurzem diese Frage vehement verneint.

Ja, ich gehöre zu den Menschen, die sich zumindest bis zur Rede Putins am 21. Februar und der Anerkennung der beiden Republiken Donezk und Luhansk sicher waren, dass Russland niemals einen Krieg gegen die Ukraine anfangen würde.

Und ja, es gibt eine Vorgeschichte für diesen Konflikt, zu dem vor allem die USA, die NATO und leider auch die EU ihr Scherflein beigetragen haben.

Dem Werben um ein gemeinsames Haus Europa (Gorbatschow) und einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur und einem Handelsraum von Lissabon bis Wladiwostok (Putin) hat der Westen stets eine Absage erteilt. Wem mögen diese Ideen wohl nicht gefallen haben? Dreimal darf man raten.

Es gab in den letzten Jahren und Jahrzehnten so viele Zurückweisungen russischer Initiativen durch den sog. Westen, dass man die gegenwärtigen Ereignisse auch aus der MACHT DER KRÄNKUNG heraus interpretieren könnte.

Doch genauso wie man weder Hitler mit Stalin aufrechnen kann, kann man die vielen völkerrechtswidrigen Handlungen, Vorfälle, Einmischungen und Kriege seit 1945, begangen bis heute durch die westlichen Geheimdienste, die USA und die NATO, nicht aufrechnen mit einem Krieg Russlands gegen die Ukraine. So nach dem Motto: Die durften schon so oft und jetzt dürfen wir auch einmal…

KRIEG DARF NIE WIEDER MITTEL DER POLITIK SEIN! Darüber waren wir uns in Europa seit der unmittelbaren Nachkriegszeit einig. Das Völkerrecht sollte das Mittel zur Lösung von Konflikten sein.

Nikita Chruschtschow sagte 1962 bei der Kuba-Krise: Jeder Idiot kann einen Krieg anfangen, aber hundert Genies werden Probleme haben, ihn zu beenden.

Niemand weiß, was in den nächsten Tagen passieren wird, wie lange dieser Krieg gehen wird. Auf keinen Fall werden mehr Waffen – schon gar nicht schwere –Frieden schaffen. Nur Diplomatie kann der Ausweg sein.

Ich habe daher den OFFENEN BRIEF AN KANZLER OLAF SCHOLZ unterschrieben, der in den Medien sehr viel Schelte erfährt.

Aber damit sollte ich – wenn man Umfragen glauben kann – mit fast der Hälfte der deutschen Bevölkerung übereinstimmen. Wo spielt in der deutschen Politik und in den Medien diese Meinung eine Rolle?

Auf alle Fälle dürfen wir nicht zulassen, dass die aktuelle Situation zu einer überbordenden Russophobie führt. Als Osteuropa-Freundschaftsgesellschaft werden wir unsere zivilgesellschaftlichen Kontakte fortsetzen.

Stalin hatte seinerzeit gesagt, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt. Genau so können wir sagen: die Putins kommen und gehen, aber das russische Volk bleibt.

Ein guter Freund von mir sagte kürzlich sinngemäß: Es ist immer festzustellen, wer konkret die Verantwortung für Konflikte und Kriege trägt. Aber für den Frieden trägt jeder einzelne von uns die Verantwortung.

Ich wünsche uns allen gemeinsam, dass wir alle unserer Verantwortung für den Frieden gerecht werden!

K. Voigt