In Christoph Heins neuer Deutschlandchronik „Glückskind mit Vater“ geht es um Schuld und Verantwortung und um die Unmöglichkeit, sich der Geschichte zu entziehen.
Konstantin Boggosch ist ein Glückskind, wie seiner Mutter meint. Aber er heißt eigentlich Müller, wie sein Vater, der Kriegsverbrecher, Fabrikbesitzer der Buna-Werke in Schkopau und SS-Brigadeführer, der noch kurz vor Kriegsende sein eigenes Betriebs-KZ errichtete, um Zwangsarbeiter und Häftlinge für sich schuften zu lassen. Konstantin Boggosch hat seinen Vater nie kennengelernt, denn er wurde nach Kriegsende geboren, sein Vater aber kurz vorher von polnischen Partisanen in einem knappen Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dieser Vater bringt dem Ich-Erzähler kein Glück, sondern nur Pech, mit dem er und sein ungleicher Bruder sehr unterschiedlich umgehen. Während der ältere Bruder dem Vater in seinem Opportunismus sehr ähnelt und sich in der DDR geschickt und erfolgreich einrichtet, wird der belastete Vater und die damit verbundene Akte zum Fluch für Konstantin Boggosch, dem zunächst als einer der besten Schüler das Abitur verwehrt wird und der nach bestandener Prüfung an der Filmhochschule auch dort sein Studium durch Ministererlass nicht antreten darf. Während der Bruder von Siegerjustiz spricht und seinem in den Westen geflohenen Onkel Richard die angebliche Unschuld des Vaters abnimmt, führt die Konfrontation der Mutter mit dem KZ-Vorhaben des Ehemannes in den Buna-Werken zu einer klaren Distanzierung von dessen Kriegsverbrechen. Sie legt zusammen mit den Kindern seinen Namen ab, verzichtet auf Eigentumsansprüche und auf Angebote, in den Westen zu gehen und dort Rente und Entschädigung zu erhalten, denn der geflohene Westonkel hat längst in einem Prozess die Hinrichtung des SS-Bruders in Polen als Unrecht anerkennen lassen. Der zeitgeschichtliche Roman Christoph Heins zeigt mit den ungleichen Brüdern und Verwandten zugleich den unterschiedlichen Umgang mit Schuld und Verantwortung in Ost und West auf. Während beides im Westen jahrzehntelang verdrängt wird und die Protagonisten es geschickt verstehen, nach der Wende ihren Profit aus der nicht anerkannten Schuld zu ziehen, werden Schuld und Verantwortung im Osten nicht selten verwechselt. Wie bei Konstantin Boggosch, der für den kriegsverbrecherischen Vater beruflich in Sippenhaft genommen wird und dennoch seiner Heimat verbunden bleibt, wegen der verfluchten Vater-Akte Staatsnähe meidet und nach familiär tragischen Verlusten seinen Weg bis zum stellvertretenden Direktor einer Schule ohne Parteibuch geht. Hilfe erhält er vom Bezirksschulrat, der seine Fähigkeiten erkennt und ihn im Wissen fördert, dass ihn sein prominenter Vater, der Anarchist Max Hölz, auch lebenslang in seiner Akte verfolgte. Doch bis dahin ist es ein langer Weg, der den enttäuschen 14-Jährigen nach der Flucht über die Aufnahmestelle Marienfelde nach Marseille führt. Dort wird er bei der Fremdenlegion ausgelacht und lernt einen französischen Antiquar kennen, der ihm Übersetzungsarbeiten bei sich und seinen ehemaligen Resistance-Freunden anbietet, die ihn fördern und ihrem „kleinen Bosch“ das Abitur finanzieren. Dort erfährt der Jugendliche Einiges über Opportunisten, die früher alle in der Resistance gewesen sein wollen, um ihre Nachkriegsvorteile daraus zu ziehen. Er selbst begeistert sich für die Filme von Murnau und der Nouvelle Vague und geniest die neuen Freundschaften. Wieder fühlt er sich durch seinen toten Vater verfolgt, als er in einem Album der Resistance-Kämpfer das Foto seines Vaters wiedererkennt, der Mörder und Folterer seiner neuen Freunde sein könnte. Er flieht noch nach der Grenzschließung zurück in die DDR, muss sich dort erklären und findet bei einem Antiquar Arbeit und letztlich auch seine Liebe, die ihm den Zugang zum Studium und in den Lehrerberuf eröffnet. Dort bekommt er einen linientreuen Direktor vor die Nase gesetzt, der, mit einer Jugoslawienreise ausgezeichnet, in den Westen flieht und nach der Wende als geeigneter Reformschulleiter im Osten seine Kariere fortsetzt. Boggosch wird mit der Steuerfahndung durch seinen toten Vater erneut eingeholt und lehnt den Wiederruf seiner Eigentumsverzichtserklärung kategorisch ab, ganz im Gegenteil zu seinem Kariere-Bruder, der mit dem Millionenerbe des Kriegsverbrechervaters in der Provinz ein gemachter Mann bleibt. Ein großer Deutschland-Roman mit autobiografischen Elementen, der uns an den notwendigen adäquaten Umgang mit unserer eigenen Geschichte erinnert.