Keine neuen Mythen zum Kriegsende

geschrieben von Axel Holz

17. Juli 2020

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Im Güstrower Anzeiger der SVZ und der Welt vom 13.07.2020 wird eine Studie des Rostocker Historikers Dr. Ingo Sens gewürdigt, die den angeblichen Mythos von der kampflosen Übergabe der Stadt Güstrow am 2.Mai 1945 widerlegen soll. Es wird von Artilleriefeuer, geringen Schäden, mehreren Toten beim Einmarsch der Roten Armee und anschließenden Plünderungen, Vergewaltigungen und vielfachen Selbstmorden gesprochen. Alles dies sind nach den Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte erschütternde Tatsachen des von den Deutschen initiierten und geführten Eroberungs- und Vernichtungskrieges, aber keine Neuigkeiten. Schwierig wird es, wenn in der Ankündigung der Studie wichtige Zeitzeugenbelege unberücksichtigt bleiben und nach alten Mythen nun ein neuer Mythos von den angeblich untätigen Güstrowern gesponnen wird, die alle nur Opfer des Krieges waren. Viele haben das Kriegsende als Zusammenbruch empfunden, nicht nur der alten Ordnung sondern auch ihrer Ideale. Aber eben nicht alle. In Güstrow wurden auch Zwangsarbeiter befreit und rumänische Zwangsarbeiter waren bei der Einnahme Güstrows durch Truppen der roten Armee dabei. Darunter auch die in Güstrow wohnende ukrainische Dolmetscherin Slata Kowalewskaja, die bei nicht autorisierten Übergabeverhandlungen von Wilhelm Beltz zur kampflosen Übergabe der Stadt Güstrow übersetzte. Beltz war zunächst Direktor des Arbeitsamtes in Güstrow, seit 1930 Geschäftsführer des landwirtschaftlichen Arbeitgeberverbandes und sieht sich in den Auseinandersetzungen mit den Nazis ab Beginn der 30er Jahre selbst als besondere Stütze der liberalistischen Weltanschauung. Er stand in Kontakt mit anderen Persönlichkeiten, die die Nazis ablehnten und regelmäßig ausländische Sender abhörten. So mit dem früheren Landrat und SPD-Landtagsabgeordneten Wilhelm Höcker, dem KPD-Mitglied Herbert Warnke, dem Mitglied der bekennenden Kirche Pastor Sibrand Siegert und dem Gutsbesitzer Dr. Wendhaus. Für sie alle war das Kriegsende sicher willkommen.

Anfang April 1945 wurde der sogenannte Flaggenbefehl erlassen. Er verbot das Heraushängen weißer Flaggen und bedrohte die betreffenden Akteure mit sofortiger Hinrichtung. Am 30. April erfuhr Beltz vom Güstrower Standortkommandanten Staudinger von der Besetzung Malchins durch die „Russen“, wie er in einem 32 Text zur Besetzung Güstrows später niedergeschrieben hat. Der neu ernannte Stadtkommandant, Oberst Nobis, sollte die Stadt nun bis zur letzten Patrone verteidigen, obwohl in der Stadt täglich neue Flüchtlinge ankamen und zahlreiche Verletzte untergebracht waren. Beltz führte daraufhin ein Gespräch mit Stadtbaurat Richter, um zusammen mit dem in Schwerin ansässigen General Ulex auf Stadtkommandant Nobis einzuwirken, die abrückenden Truppen nicht durch die Stadt zu führen, sondern an Güstrow vorbeizuleiten, was auch gelang. Über eine Bekannte im Postamt Plaaz nahm er telefonischen Kontakt zur einrückenden Roten Armee auf, um eine kampflose Übergabe anzubieten, die aber nicht mit der Stadt abgesprochen war. Im direkten Gespräch in Plaaz übersetzte die Dolmetscherin Slata Kowalewskaja, auch als Offiziere sie weiter nach Malchin fuhren, um die Folgen des bewaffneten Widerstands zu zeigen, die auch Güstrow drohten. Dort hatte es aus der Stadt heraus gegen die anrückenden sowjetischen Truppen bewaffneten Widerstand gegeben. Ein sowjetischer Regimentskommandeur und sein Adjutant waren nach Angaben russischer Offiziere als Parlamentarier erschossen worden. Danach brannte ein Teil der Stadt. Gleiches wollte Beltz verhindern, hatte aber keinen Kontakt nach Güstrow, so dass er selbst mit seiner Dolmetscherin mit dem Auto nach Güstrow fuhr und zeitgleich mit sowjetischen Truppen aus anderer Richtung eintraf. Die wurden nun nach seiner vorübergehenden Festnahme zumindest über die laufenden Gespräche informiert. Else Grüner hat dazu in einem Erinnerungsbericht 1986 belegt, dass ihr Ehemann Pastor Grüner noch vor dem Einmarsch der roten Armee beim Stadtkommandanten eine Eingabe zur kampflosen Übergabe der Stadt machte, die nach einem langen Gespräch tatsächlich zu einer Einigung geführt habe und Parlamentarier der Stadt den sowjetischen Truppen entgegenfuhren. Danach empfingen diverse Politiker, Pastor Siegert und Pastor Grüner den russischen Kommandanten im Güstrower Rathaus. Diese Umstände des Einmarsches der sowjetischen Truppen in Güstrow und das beherzte und für sie zugleich gefährliche Eingreifen einiger Güstrower Akteure haben sicher ähnliche Opfer und Zerstörungen wie in Malchin später in Güstrow verhindert. Daran sollte auch 75 Jahre nach Kriegsende erinnert werden. Darunter an Slata Kowalewskaja, die am 31.10.1997 die Güstrower Ehrenbürgerschaft erhielt.

Anmerkung der Redaktion am 24.08.2020:

Die Redaktion wurde nach Erscheinen dieses Artikels darauf aufmerksam gemacht, dass die hier erwähnten Quellen zum Kriegsende Dr. Sens bekannt seien und in seine Studie zur Geschichte Güstrows Eingang gefunden hätten. Wir verweisen darauf, dass sich unsere Kritik ausschließlich auf die oben angegebenen Medien zur Ankündigung dieser Studie bezieht. Inwiefern, die genannten Quellen in die Studie zur Geschichte Güstrows eingegangen sind, können wir noch nicht beurteilen, weil uns die Studie noch nicht vorliegt. Im Güstrower Anzeiger vom 13.07.2020 heißt es bei der Ankündigung der Studie zu Dr. Sens: „Der Güstrower Ehrenbürgerin Slata Kowaleskaja weist er bei den Vorgängen zum 1. Mai 1945 eine eher marginale Rolle zu.“ Die oben genannten Dokumente belegen hingegen, dass die Ukrainerin eine wichtige Rolle für die Kontaktaufnahme zur Roten Armee und letztlich auch zur kampflosen Übergabe der Stadt gespielt hat. Dr. Sens hat der Darstellung in der SVZ nach unserer Kenntnis bisher nicht widersprochen.

Potsdamer Konferenz: Für eine Nachkriegsordnung ohne Faschismus

geschrieben von Ulrich Schneider

17. Juli 2020

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Vor 75 Jahren, am 17. Juli 1945, begann die Potsdamer Konferenz der alliierten Siegermächte. Wie auf der Konferenz von Jalta beschlossen, definierten die Kräfte der Anti-Hitler-Koalition nach der militärischen Zerschlagung des deutschen Faschismus die Grundlagen für ein friedliches Nachkriegs-Europa. Die Unterhändler Großbritanniens, der Sowjetunion und der USA formulierten Bedingungen jener europäischen Nachkriegsordnung, die dazu beitragen sollten, dass nie wieder Faschismus und Krieg von deutschem Boden ausgehen können.

Die Ziele waren die Vernichtung des militärischen Potenzials des deutschen Faschismus und Aufbau einer gesellschaftlichen Ordnung auf der Basis von Denazifizierung, Demilitarisierung, Demonopolisierung/ Dezentralisierung und Demokratisierung. Dies entsprach auch dem Willen aller antifaschistischen Kräfte, die in ihren Ländern für die Befreiung vom Faschismus gekämpft hatten.  Geregelt wurde die Wiederherstellung der Souveränität der vorher okkupierten Länder sowie eine territoriale Neuordnung in Mitteleuropa, insbesondere die Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze. Verbunden damit war auch die Umsiedlung von Teilen der deutschen Bevölkerung, was revanchistische Kreise insbesondere in Deutschland bis heute als „Vertreibung“ denunzieren.  Zum Abschluss der Verhandlungen unterzeichneten der britische Premierminister Attlee sowie der sowjetische Staatschef Stalin und der amerikanische Präsident Truman als Repräsentanten der Siegermächte dieses Dokument. Dieser Vertrag, dem später auch Frankreich beitrat, bildet bis heute das rechtliche Gerüst der europäischen Nachkriegsordnung.

Auch wenn man festhalten muss, dass – mit dem aufkommenden Kalten Krieg – wichtige Aspekte des antifaschistischen Neuanfangs insbesondere in den Westzonen nicht umgesetzt wurden, so bleibt für uns als internationale antifaschistische Organisation das Potsdamer Abkommen bis heute von herausragender Bedeutung. Denn es
•    kennzeichnet den verbrecherischen Charakter der faschistischen Organisationen und Institutionen, wie er im Nürnberger Prozess auch juristisch nachgewiesen wurde,
•    gewährleistet bis heute insbesondere die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze,
•    wehrt damit alle revanchistischen Ansprüche insbesondere gegenüber Polen und der Tschechischen Republik ab,
•    benennt zudem die Verantwortung der großen Industrie, der Banken und Konzerne im Deutschen Reich für die faschistischen Verbrechen und steht somit quer zu allen Versuchen der geschichtsrevisionistischen Umdeutung,
•    definiert die politischen Grundlagen einer antifaschistisch-demokratischen Neuordnung in Deutschland,
•    ist das Dokument der siegreichen Anti-Hitler-Koalition, die getragen war von den militärischen Einheiten der Armeen und dem antifaschistischen Befreiungskampf der Völker.

Die FIR und ihre Mitgliedsverbände verteidigen die Ideen des Potsdamer Abkommens gegen alle Ansätze des Wiedererstarkens von Faschismus und Antikommunismus insbesondere in mittel- und osteuropäischen Staaten und gegen alle Versuche, die Geschichte des zweiten Weltkriegs zu verfälschen. Es darf niemals hingenommen werden, Hitler mit Stalin, Faschismus mit Sozialismus, die faschistischen Mörder und deren Opfer gleichzusetzen, wie es in der skandalösen Resolution des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 geschah. Die Völker Europas, die die Folgen des deutschen imperialistisch-faschistischen Krieg tragen mussten, dürfen solche Geschichtsrevision durch die Fälschung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges nicht hinnehmen. Für die FIR und ihre Mitgliedsverbände ist die Erinnerung an das Potsdamer Abkommen eine Verpflichtung, dem Wiederaufleben von faschistischen Gruppen und Ideologien sowie allen Formen der Verfälschung der Geschichte des antifaschistischen Kampfes offensiv entgegenzutreten.

Die VVN-BdA MV trauert um William Wolff

geschrieben von Axel Holz

9. Juli 2020

Die VVN-BdA MV trauert um den langjährigen Landesrabbiner William Wolff. Mit seiner engagierten Arbeit hat er ein Stück jüdischer Religion und Kultur nach Mecklenburg-Vorpommern zurückgebracht,
die die Nazis mit der Vernichtung eines Großteils der europäischen Juden auslöschen wollten. William Wolff war ein kluger, großherziger Mensch und er war ein Meister des Wortes.
Das hat er gezielt eingesetzt, um  regelmäßig am 9. November in Schwerin an die Verbrechen der Nazis zu erinnern und an unsere Verantwortung als Demokraten, uns Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus entgegenzustellen.
Er war ein optimistischer Mensch und hatte großes Vertrauen in die Demokratie, wenn er immer wieder daran erinnerte, dass trotz neuer nazistischer und rassistische Kräfte in der Gesellschaft die demokratischen Wahlen eine überwältigende Gegenposition der Demokraten
dokumentieren.
William Wolff war offen für alle demokratischen Kräfte im Land, auch für die VVN-BdA, mit der er in Schwerin in Kontakt stand. Mit seiner überzeugenden Persönlichkeit hat er die ihm wichtigen Entscheidungen souverän getroffen.
So hat William Wolff die Wiedereinweihung der Gedenkstätte für deutsche Ärzte in Spanien 1936-1939 bei Ückermünde  mit einer Rede begleitet, mit der der Einsatz jüdischer Ärzte im Spanienkrieg auf republikanischer Seite gewürdigt wird. Die Gedenkstätte wurde von der Rostocker VVN-BdA und der Stadt Uckermünde mit Spenden verlegt, saniert und mit der Herausgabe eines Kataloges der Öffentlichkeit bekannt gemacht. 2010 nahmen Schüler des Gymnasiums Ückermünde unter dem Motto „Geschichte lebt“ das Thema „Deutsche Ärzte im Spanischen Krieg“ auf und suchten im Rahmen einer Bildungsreise in Spanien nach Spuren, organisiert vom Verein Tachilles e.V. und finanziell unterstützt von der VVN-BdA MV.  Das Denkmal für die jüdischen Ärzte bei Ückermünde wurde leider bis heute nicht in den Gedenkstättenkatalog des Landes aufgenommen.

Günter Pappenheim – Zum 75. Jahrestag der Befreiung und Selbstbefreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 2020

geschrieben von Günter Pappenheim

7. Juli 2020

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Liebe Kameradinnen und Kameraden, liebe Freundinnen und Freunde, Weggefährten, meine Damen und Herren!

In einer außergewöhnlichen Situation äußere ich mich. Die Corona – Pandemie hat die Welt in den Griff genommen. Um Menschen vor dem Virus Corvid-19 zu schützen, sind vielfältige Maßnahmen getroffen worden.

Unter diesen Bedingungen über die Befreiung der Häftlinge des faschistischen deutschen Konzentrationslagers Buchenwald zu sprechen, ohne in die Gesichter der Menschen sehen zu können, die angesprochen werden sollen, ist für mich eine neue Situation. Es wird keine herzlichen, kameradschaftlichen Begrüßungen, keine Begegnungen geben, keine Gespräche miteinander werden geführt werden können.

Wenn ich in der Vergangenheit über meine Entwicklung, meine Erlebnisse und Erfahrungen sprach, war es mir immer besonders wichtig, in die Gesichter zu sehen und auch auf diese Weise den sozialen Kontakt herzustellen.

Der soziale Kontakt hat für mich so große Bedeutung, weil er mir nach meiner Einweisung in das Konzentrationslager Buchenwald das Leben rettete. Ich, der wenig Erfahrene, neunzehnjährige politische Häftling, wäre gnadenlos dem Mordterror der SS ausgeliefert gewesen, hätten mir nicht erfahrene Kameraden beigestanden. Noch heute verneige ich mich vor dem Sozialdemokraten Hermann Brill und dem Kommunisten Eduard Marschall, die mich im Kleinen Lager ausfindig machten und mit dafür sorgten, dass ich ins Hauptlager kam. Ich verneige mich vor Hermann Schönherr und Walter Wolf, die mutig und uneigennützig solidarisch als Kapos Leben von anderen Kameraden beschützten – auch mein Leben. Und ich erinnere mich in Dankbarkeit an den Stubendienst im Block 45, den österreichischen Häftling Fritz Pollak, der für mich eine Schlafstelle fand. Es handelte sich bei allen Genannten um politische Häftlinge, die zum organisierten politischen Widerstand im KZ Buchenwald gehörten, der unter größter Geheimhaltung sein Bemühen darauf richtete, gegen die Bestien der SS ein humanistisches internationales Schutzschild zu schaffen.

Unser Kamerad und langjähriger Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald – Dora und Kommandos, der französische Kommunist Pierre Durand sagte: »Es gab viele Buchenwald«. Ja, es gab auch das Buchenwald des organisierten antifaschistischen Widerstands. Das darf nicht vergessen werden. Diese Mahnung am fünfundsiebzigsten Jahrestag der Befreiung und Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ Buchenwald ist sehr aktuell.

Als am 11. April 1945 mein Vorarbeiter, der Dresdener jüdische Kamerad Leonhard in die Gerätekammer mit der Nachricht stürzte, er hätte Häftlinge mit Waffen im Lager gesehen, die sich in Richtung Haupttor bewegten, glaubte ich ihm zunächst nicht. Dann aber sah ich das mit eigenen Augen und meinte zu träumen. Aus dem Traum riss mich das Wort »Kameraden«. Aus den Lautsprechern war das zu hören, aus denen soeben noch Kommandos gebrüllt worden waren, die den Tod bedeuten konnten. Nun sprach der Lagerälteste Hans Eiden: »Kameraden! Wir sind frei!« Diese wenigen Worte erschütterten mich.

Durch das geöffnete Haupttor mit der zynisch gemeinten Inschrift »Jedem das Seine« ging ich, nein, ich schritt erstmals als freier Mensch.

Die Inschrift war zum Bumerang für die SS-Täter geworden. Es gelang nicht, alle zur Verantwortung zu ziehen und nicht wenige blieben straflos.

Dann kam der 19. April 1945, das Totengedenken auf dem Appellplatz. Wo sich heute die Gedenkplatte befindet, war ein schlichter hölzerner Obelisk errichtet und vor diesem traten blockweise die 21.000 Überlebenden an, um im Gedenken an die 51.000 Toten (später musste die Zahl auf 56.000 ergänzt werden) den Schwur zu leisten mit der Grundaussage:

      »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere     Losung. Der Aufbau   einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.«

Für viele von uns ehemaligen Häftlingen wurde dieser Schwur lebenslang verbindlich, ein Kompass für das künftige Leben, ein Programm für die Lebensgestaltung.

Ich habe geschworen, meine Schwurhand gehoben. Ohne Einschränkung stelle ich hier fest: Niemand hat das Recht, den Wortlaut des Schwurs von Buchenwald missverständlich zu deuten! Niemand!

Genauso wie niemand das Recht hat, etwa der Sixtinischen Madonna von Raffael den Faltenwurf zu korrigieren.

Mit der Erfahrung von Buchenwald und im Bewusstsein der Kraft der Solidarität trat ich am 1. August 1947 in die interzonale Organisation Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) ein. Deren politische Arbeit war auf die Verwirklichung der programmatischen Sätze des Schwurs von Buchenwald gerichtet – und ist es immer noch.

Dass dieser größten deutschen Verfolgtenorganisation fünfundsiebzig Jahre nach der Befreiung vom deutschen Faschismus in übelster antikommunistischer Tonlage auf Grund infamer Unterstellungen von der Berliner Finanzbehörde die Gemeinnützigkeit entzogen werden konnte, ist ein Skandal erster Güte und eine jeglichen demokratischen Verständnisses hohnsprechende Schande.

Ich habe beim Bundesfinanzminister dagegen protestiert. Er ließ mir mitteilen, dass er über die Entscheidung der Berliner Steuerverwaltung genau so überrascht gewesen sei wie ich und dass er sich die Anzweiflung der Verfassungstreue der VVN-BdA nicht hätte vorstellen können. Zugleich ließ er darauf verweisen, dass Steuerverwaltung Angelegenheit der Länder und alles rechtmäßig vollzogen worden sei. Der Minister, hieß es, hätte um eine Darstellung aus Berlin gebeten. So geschehen im November 2019. Bis heute sind zwar die finanziellen Forderungen an die VVN-BdA ausgesetzt, der Entzug der Gemeinnützigkeit bleibt jedoch aufrechterhalten, wodurch diese antifaschistische Organisation erwürgt und handlungsunfähig gemacht werden soll.

Damit bin ich in der Gegenwart und habe die Jahre des Kalten Krieges übersprungen, der, überwunden geglaubt, sich größter Lebendigkeit erfreut.

Ich bin in einer Gegenwart, die offenbar aus der Vergangenheit zu lernen nicht in der Lage ist. Es gibt erstarkende Kräfte, die Nationalismus und völkisches Denken neu beleben, Rassismus, Fremdenhass, Antisemitismus, Antiziganismus ideologisch befördern. Politische Stagnation und soziale Fehlentwicklungen nutzen sie, um populistisch in die Irre zu leiten. Leider haben sie dabei Erfolge in Parlamenten aller Ebenen – hier, bei uns zu Hause. Der Tabubruch von Erfurt am 5. Februar 2020 war ein Putschversuch im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten. Uns verbietet sich, mit dem Finger auf andere Länder zu zeigen.

Nicht erst seit Bekanntwerden des Terrors des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), der zehn Jahre unerkannt und ungehindert morden durfte, wird uns die Mär vom Einzeltäter aufgetischt, noch dazu von dem in seiner psychischen Entwicklung gestörten. Dass ein gesellschaftlicher Hintergrund und ein ideologisches Umfeld heranwachsen konnten, die entscheidenden Einfluss auf die Motivbildung der Täter hatten, wird geflissentlich unterschlagen.

Der Mord an Walter Lübcke in Wolfhagen, die Morde in Hanau und Halle ebenso wie das Angreifen oder Abfackeln von Flüchtlingsunterkünften (die Aufzählung ließe sich fortsetzen) haben übereinstimmend politische Zielsetzungen. Wenn offen gefordert wird, die Erinnerungskultur in Deutschland um 180 Grad zu wenden und die Verbrechen der deutschen Faschisten zum »Vogelschiss« der Geschichte mutieren, so ist das geistige Brandstiftung und Schaffung eines ideologischen Umfelds für politisch motivierte Gewalt.

Die Täter von 209 Morden mit rechtsextremistischem Hintergrund seit 1990 haben einzeln gehandelt, ja, ihre Motivgefüge und ihre Opfer sind sehr ähnlich. Die Drahtzieher unerwähnt und unbeobachtet zu lassen, ist sträflich.

Wir erfuhren dieser Tage, dass das Bundeskriminalamt feststellte, der Mörder von Hanau sei kein »Anhänger einer rechtsextremistischen Ideologie«, schließlich hätte er einem »dunkelhäutigen Nachbarn« mehrfach geholfen und in einer Fußballmannschaft mit mehreren Mitspielern mit Migrationshintergrund zusammen gespielt. So schlicht denkt man im Bundeskriminalamt und nach Kritik wird man dieses Denken rechtfertigen. Eine reale rechtsextreme Tat, aber ein unbescholtener und kein rechter Täter?

Auch das hatten wir in der Geschichte schon.

Warum wohl fällt Verantwortlichen nicht auf, dass es 209 Opfer rechtsextremistischer Gewalt gibt, aber kein Todesopfer linksextremistischer Gewalt bekannt ist, da man große Anstrengungen unternimmt, linken und rechten Extremismus gleich zu setzen?

Polemisch zugespitzt stellt sich die Frage, ob wegen der rechtsextremistischen Verbrechen die Antifaschisten verfolgt werden müssen.

Ich persönlich und meine Mitstreiter in der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora haben immer großen Wert darauf gelegt, mit jungen Leuten ins Gespräch zu kommen, um unser Wissen und unsere Erfahrung zu vermitteln. Bei Gesprächsrunden, Projektwochen in Schulen, Führungen in Buchenwald usw. stellten wir große Aufgeschlossenheit fest. Gleichermaßen konstatierten wir, dass die Vermittlung von Wissen über die Zeit des Faschismus und in dieser Zeit begangene Verbrechen in den Schulen rückläufig und teilweise gar nicht mehr vorhanden ist. Wir sehen einen sehr ernst zu nehmenden Zusammenhang zwischen Zunahme rechtsextremistischer Handlungen und nicht vermitteltem historischen Wissen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf

Am 27. März 2020 hat die Journalistin und Schriftstellerin Daniela Dahn in der Tageszeitung neues deutschland gefordert, dass die bundesdeutsche Politik endlich konsequent aktiv werden muss. Ihre Forderungen zur Kenntnis zu nehmen und zügig zu handeln, entspricht unserer antifaschistischen Grundeinstellung.

Die Tatsache, dass wir den 75. Jahrestag der Befreiung und Selbstbefreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald nicht in gewohnter Weise begehen können, betrübt besonders uns wenige Überlebende.

Für mich – das will ich noch einmal mit aller Deutlichkeit betonen – war der Schwur von Buchenwald ein Leben lang verbindlich. Ich weiß, dass es aus nachfolgenden Generationen Menschen gibt, die nicht aufhören werden, sich um die Verwirklichung des Schwurs zu mühen.

Wenn nach Abklingen der Corona-Krise vieles neu gedacht und gemacht werden muss, fordere ich die Nachkommenden auf:

  • Lasst nicht zu, dass vergessen wird, was in Buchenwald geschah und ordnet es ein in das Furchtbare, was durch die Hitlerfaschisten in der Welt angerichtet wurde.
  • Erinnert und bedenkt die Apriltage 1945 in Buchenwald.
  • Erinnert und bewahrt den Schwur von Buchenwald, denn es gibt keine Alternative zu einer Welt des Friedens, der Freiheit und ohne Faschismus, wenn die Menschheit überleben will.
  • Scheut keine Mühe, wenn es darum geht, den antifaschistischen Konsens immer neu, auch international, zu beleben. Meine Gedanken sind in Buchenwald, bei Euch, bei Ihnen

Günter Pappenheim

Erster Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos

Vorsitzender der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora

Kritik an Geschichtsklitterung in der Sächsischen Gedenkstättenstiftung

6. Juli 2020

Die AG der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik fordert, dass die untragbaren Äußerungen des amtierenden Geschäftsführers der sächsischen Gedenkstätten, Siegfried Reiprich, Konsequenzen haben müssen. Er hatte Krawalle in Stuttgart mit der Reichsprogromnacht der Nazis gleichgesetzt, bei der bekanntlich 800 Jüdinnen und Juden starben, 30.000 Menschen in Konzentrationslager verschleppt wurden und 1.400 Synagogen zerstört wurden. Gleichzeitig verbreite Siegfried Reiprich rassistische Versatzstücke von einer angeblichen zukünftigen „weißen Minderheit“ und stärke damit rechte Diskurse. Dies sei ein Affront gegenüber allen, die sich tagtäglich mit ihrer Arbeit in Gedenkstätten und in der historisch-politischen Bildung gegen Rassismus, Antisemitismus und für demokratische Werte einsetzten, erklärte Josephine Ulbricht, Sprecherin der sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft und Mitarbeiterin der Gedenkstätte für Zwangsarbeit in Leipzig. Eine Stellungnahme der politischen Entscheidungsträger und personelle Konsequenzen forderten auch die Sprecherinnen des Forums der Landesarbeitsgemeinschaften der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und -initiativen in Deutschland und der Sprecher der AG der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Jens-Christian Wagner.

2020-07-01 PM Äußerungen Reiprich-2

Vergessen wir niemals die Erfahrungen des gemeinsamen Kampfes gegen die faschistische Barbarei!

geschrieben von Ulrich Schneider

3. Juli 2020

Nachdem unter den Bedingungen der Corona-Einschränkungen in allen europäischen Staaten die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung und des Sieges über den Faschismus abgesagt werden mussten, fand Ende Juni in Moskau – am historischen Jahrestag der Siegesparade 1945 auf dem Roten Platz – die Gedenkparade zum Tag des Sieges mit Zahlreichen Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges statt. Es war eine eindrucksvolle Würdigung der Leistung der sowjetischen Armee bei der Niederschlagung der faschistischen Barbarei. Es war aber auch ein sichtbares Signal, dass diese historische Leistung nicht vergessen werden darf.

In einem ausführlichen Beitrag der US Zeitschrift „National Interest“ hatte der russische Präsident Wladimir Putin anlässlich des 75. Jahrestages des Sieges über den deutschen Faschismus einen ausführlichen Beitrag veröffentlichen können, in dem er betonte:
„Das Vergessen der Lehren aus der Geschichte wird unweigerlich hart bestraft. Wir werden die Wahrheit auf der Grundlage dokumentierter historischer Fakten entschlossen verteidigen und auch weiterhin ehrlich und unparteiisch über die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges sprechen.“
Er kündigte an, dass Russland eine öffentliche Sammlung von Archivdokumenten, Film- und Fotomaterialien über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Vorkriegszeit erstelle und rief die anderen Alliierten auf, dies auf der Grundlage ihrer Archive ebenfalls zu tun.
Nur so könne die Wahrheit über den Weg in den Zweiten Weltkrieg auch für kommende Generationen sichtbar werden. In diesem Rahmen verwies er auf die verhängnisvolle Appeasement-Politik der Westalliierten beim Münchener Diktat gegen die CSR, aber auch auf die Ablehnung der Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit zum Schutz der polnischen Souveränität.
Wenn – wie in der skandalösen Resolution des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 – die Sowjetunion für den Beginn des zweiten Weltkrieges verantwortlich gemacht wird, dann zeigt das nur, dass man nicht bereit ist, die historischen Dokumente zur Kenntnis zu nehmen.

Und mit Hinweis auf die Nazi-Komplizen und Kollaborateure der verschiedenen Schattierungen, die selbst die Hinrichtung in Babyn Jar, das Massaker von Wolhynien, das verbrannte Chatyn und die Vernichtung von Juden in Litauen und Lettland auf dem Gewissen hätten, beklagte er:
Es sei „verblüffend, wenn in einer Reihe von Ländern diejenigen, die sich durch die Kollaboration mit den Nazis befleckt haben, plötzlich mit den Veteranen des Zweiten Weltkrieges gleichgesetzt werden. Ich halte es für unzulässig, Befreier und Besatzer gleichzusetzen. Und die Heroisierung der Nazi-Komplizen kann nur als Verrat am Gedenken an unsere Väter und Großväter angesehen werden. Der Verrat an jenen Idealen, die die Völker im Kampf gegen den Nationalsozialismus vereinten.“ Er warnte vor solchen Entwicklungen nicht allein mit Blick auf die Geschichte: „Der historische Revisionismus, dessen Manifestationen wir jetzt im Westen beobachten, insbesondere in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und dessen Ausgang, ist gefährlich, weil er das Verständnis der Prinzipien der friedlichen Entwicklung, die 1945 auf den Konferenzen von Jalta und San Francisco festgelegt wurden, grob und zynisch verzerrt.“

Im Sinne des antifaschistischen Anliegens der FIR und ihrer Mitgliedsverbände forderte er von den ehemals alliierten Staaten „ein gemeinsames Engagement für den Geist des Bündnisses und die hohen humanistischen Ideale und Werte, für die unsere Väter und Großväter Schulter an Schulter gekämpft haben.“

Ehrenvorsitzender der VVN-BdA Heinrich Fink im Alter von 85 Jahren verstorben

2. Juli 2020

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Mit tiefer Trauer nehmen wir, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, Abschied von unserem Ehrenvorsitzenden Heinrich Fink. Er wirkte von November 2003 bis Mai 2014 als Vorsitzender der aus West und Ost zusammengeschlossenen antifaschistischen Verbände – und war auf beiden Seiten hoch geschätzt. Seine Ernennung als Ehrenvorsitzender 2014 war einstimmig.

Heinrich Fink vereinigt in seiner persönlichen und beruflichen Biographie zentrale Zäsuren der deutschen Geschichte. Geboren 1935 in einer deutschen Siedlung in der Sowjetunion wurde seine Familie von den Nazis „heim ins Reich“ geholt, zuerst im okkupierten Polen angesiedelt, das Kriegsende erlebte er in Brandenburg. Als Kind einer Bauernfamilie nutzte er die Möglichkeiten, die die DDR bot, und studierte von 1954 bis 1960 Theologie an der Humboldt-Universität (HUB). Im Blick auf die „Frontstadt Berlin“ entschied er sich bewusst für die DDR. Er promovierte 1966 und habilitierte sich 1978 an der HUB mit dem ausgewiesen, antifaschistischen Thema „Karl Barth und die Bewegung Freies Deutschland in der Schweiz“, was nicht bei allen professoralen Kollegen gut ankam. Er war jedoch in der Lage, in beharrlichen Gesprächen und überzeugender Offenheit seine Kritiker zu gewinnen. So wurde er 1980 zum Dekan der Theologischen Fakultät gewählt. Gleichzeitig mit seiner Ernennung zum Professor für Praktische Theologie war er auch Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg. In beiden Funktionen hatte er vielfältige Kontakte ins Ausland, wobei er die DDR stets als seinen Staat ansah ohne Mitglied der SED oder einer anderen Blockpartei zu sein.

Das politische Ende der DDR im Herbst 1989 begleitete er als Engagierter, der für eine bessere DDR stritt. Bei einem Einsatz der Volkspolizei gegen Demonstranten vor der Berliner Gethsemane-Kirche wurde er im Oktober 1989 verletzt. Sein hohes persönliches Ansehen führte dazu, dass Heinrich Fink im Dezember 1989 den „Runden Tisch“ an der Humboldt-Universität leitete. Im April 1990 wurde er in freier Wahl mit 341 zu 79 Stimmen zum Rektor der HU gewählt.

Eine solche Richtungsentscheidung widersprach den Vorstellungen der „Abwickler der DDR“. Mit dem Vorwurf, inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit gewesen zu sein, wurde Fink 1991 fristlos entlassen. Obwohl weder die Gauck-Behörde, noch die im Prozess angerufenen Instanzen gerichtsfeste Beweise vorlegen konnten, kämpfte Heinrich Fink sieben Jahre lang vergebens gegen diese Verleumdungen. Noch 2013 wurde sie im bayerischen Verfassungsschutzbericht wiederholt, wogegen Hinrich Fink ebenfalls klagte.

Allen Anfeindungen und Hasskampagnen zum Trotz blieb er gesellschaftlich engagiert. Von 1998 bis 2001 wurde er als parteiloser Direktkandidat für die PDS in den Bundestag gewählt, wo er vor allem die Interessen der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger, die antifaschistische Kultur, die Gedenkarbeit und die Freiheit der Wissenschaft thematisierte.

Ab 2003 lag sein gesellschaftlicher Arbeitsschwerpunkt – wie beschrieben – in den Reihen der VVN-BdA. In seinen Beiträgen forderte er immer wieder, die unterschiedlichen biographischen Perspektiven und politischen Zugänge zur antifaschistischen Arbeit in der Tätigkeit der VVN-BdA angemessen zu berücksichtigen. Gleichzeitig eröffnete er uns durch seine vielfältigen gesellschaftlichen Kontakte neue Wirkungsmöglichkeiten.

Die VVN-BdA war aber auch in dieser Zeit nicht sein alleiniges Tätigkeitsfeld. Er setzte sich für weitere humanistische und antirassistische Themen ein. Für dieses Engagement erhielt er im Dezember 2013 den „Menschenrechtspreis“ der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.“ Mit dem Tod von Prof. Dr. Heinrich Fink verliert die VVN-BdA eine der Persönlichkeiten, die die antifaschistische Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten mit prägten.

Neue Stolpersteine in Neubrandenburg

geschrieben von Axel Holz

15. Juni 2020

Statt sechs sollten am 15. Juni sieben Stolpersteine in Neubrandenburg verlegt werden. So lautete jedenfalls der Beschluss der Stadtvertreter, erklärte Amina Kanew. Sie ist Vorstand der VVN-BdA Mecklenburg-Vorpommern und Ratsfrau der Linken in Neubrandenburg. Allerdings war für Ursula Kallmann keine Freigabe vom Bundesarchiv gekommen, weil die recherchierten Ergebnisse zu ihrem Leben noch zu unpräzise waren, sagte die junge Ratsfrau und Mitinitiatorin der Steineverlegung. Der Stolperstein für sie wird später verlegt. 46 Opfer des NS-Regime sind in Neubrandenburg  bekannt und sollen weiter erforscht werden. Die Stolpersteine erinnern an die der Schicksale von NS-Opfern an deren letzten freiwilligen Wohnort – an Menschen, die verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Neubrandenburg hat mittlerweile hat elf Stolperstein. Die ersten fünf waren vor gut zehn Jahren verlegt worden. Bei sechs Menschen konnten die Mitstreiter der Initiative jetzt alle notwendigen Daten beschaffen. Für Mathilde Rosenstein, Franziska Born, Max Herrmann Heine, Henny Hirschfeldt, Hildegard Fanni Salomon und Alfred Ludwig Salomon sind nun Stolpersteine gesetzt worden, einmal am Rande des Markplatz-Centers Darrenstraße/Ecke Krämerstraße und einmal ind der Treptower Straße am Marien-Carrée. Auf einer Stadtkarte von 1907 war zu erkennen, dass an diesen Stellen einst Geschäfte und Wohnungen waren.  Für einen Stolperstein sind 120 Euro notwendig. Die VVN-BdA hatte sich am Spendenaufruf aktiv beteiligt und zahlreiche Spenden einwerben können.

Die tödliche Politik der Festung Europa: mehr als 40 000 dokumentierte Flüchtlingstodesfälle seit 1993

geschrieben von Florian Gutsche

15. Juni 2020

In diesem Jahr jährt sich der Weltflüchtlingstag am 20. Juni zum 19 mal. Dennoch sterben so viele Menschen wie nie zuvor an den europäischen Außengrenzen oder leben unter menschenunwürdigen Bedingen in Lagern. Das UNITED Netzwerk, in dem die VVN-BdA Mitglied ist, dokumentiert seit 1993 alle bekannten Tode von Menschen die in Verbindung mit der europäischen Abschottungspolitik stehen.

Die Todesursachen sind zahlreich, und jede ist erschreckender als die andere. Die meisten ertrinken im Mittelmeer. Andere werden an den Grenzen erschossen, von Menschenhändlern getötet, begehen in den Haftanstalten aus Verzweiflung, Depression und Angst Selbstmord oder werden nach ihrer Deportation in die Herkunftsländer getötet. Unter ihnen: Babys, Kinder, Teenager, Schwangere, Frauen und Männer.

Seit 1993 starben mehr als 40.000 Menschen bei dem Versuch, in Europa einen sicheren Zufluchtsort zu finden, auf der Flucht vor Krieg, grundlosen Verfolgungen, Lebensbedrohungen für ihre: Überzeugungen, politischen Ansichten oder aus Liebe.

Derzeit leben Hunderttausende von Menschen unter katastrophalen Bedingungen in elenden Flüchtlingslagern an den Außengrenzen Europas und Nordafrikas und des Nahen Ostens. Obwohl Jordanien pro Kopf der Bevölkerung die meisten Geflüchteten beherbergt und die Türkei eines der größten Aufnahmeländer ist, ist die Situation auf den griechischen Inseln, wo die Lager für menschenunwürdig erklärt wurden, besonders dramatisch. Die Coronapandemie hat die Situation verschärft und erfordert eine sofortige Reaktion. Wir fordern:

  • Die gefährlichen Lager an der EU-Außengrenze und in Griechenland müssen aufgelöst und die Geflüchteten evakuiert, dezentral untergebracht und versorgt werden.
  • Deutschland muss endlich die Kinder und Jugendlichen, zu deren Aufnahme sich „Solidarische Städte“ bereiterklärt haben, aufnehmen.

Kollektive Unschuld

geschrieben von Axel Holz

13. Juni 2020

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In einem übersichtlichen Essay thematisiert der 1977 in Hannover geborene Politikwissenschaftler Samuel Salzborn die kollektive Unschuld der Deutschen, die sich in der Abwehr der Shoah im Erinnern zeige. Er zeigt mit seinem Buch, dass im bundesdeutschen Selbstbild die Schuld- und Erinnerungsabwehr, die Selbststilisierung als Opfer und die antisemitische Projektion schon immer und bis heute hartnäckig praktiziert wird. Salzmann verleiht dem Thema dabei eine Schärfe, die es in der deutschen Diskussion so noch nicht gab. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, der Abschied vom eigenen Opfermythos und die Auseinandersetzung mit der antisemitischen Täterschaft finde in den Familiengeschichten der Bundesrepublik faktisch nicht statt. Auch die Tatsache, dass zahlreiche Tätergeschichten mittlerweile durch kritische Familienangehörige in den letzten Jahrzehnten auf den Buchmarkt aufgetaucht sind, ändert nichts an dieser Tendenz. Salzmann spricht sogar von einer linksliberalen Elite, die die NS-Aufarbeitung irrtümlich in der Masse der Bevölkerung angekommen glaubt, die es so aber nicht gebe. Die bundesdeutsche Erfolgsgeschichte von der Aufarbeitung des Holocaust sei kritisch zu hinterfragen. Tatsächlich sei in allen drei Nachfolgestaaten des NS-Regime eine Selbstinfantilisierung und Verantwortungsabwehr erfolgt.  Geschichtsvergessenheit habe uns durchgehend begleitet – von der Inszenierung der Deutschen als Opfer, der anhaltenden Sehnsucht nach Unschuld bis zur Geschichtsrelativierung. In den frühen Debatten und Straffreiheitsregelungen,  bei der Thematisierung von Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg, durch Ausstellungsprojekte der Staufer- und Preußenausstellung, in der Diskussion um das „Zentrum für Flucht und Vertreibung“ oder durch die massive Ungleichgewichtung zu Gunsten von Erinnerungsorten der DDR-Geschichte gegenüber dem NS-Gedenken komme dies systematisch zum Ausdruck.  Die klassische Täter-Opfer-Verdrehung sei bis heute ein fester Bestandteil der familiären NS-Aufarbeitung. Denn tatsächlich soll es nach wissenschaftlichen Schätzungen nur 200.000 Menschen gegeben haben, die Naziopfern geholfen haben. Nach der Memo-Studie des Instituts für interdisziplinäre Konfliktforschung der Universität Bielefeld dichten aber 28,7 Prozent der Deutschen ihren Vorfahren eine Helfer-Vita an und 68,9 Prozent der Befragten glauben, dass ihre Angehörigen nicht unter den Tätern zu finden sind. 35,9 Prozent der Befragten glauben sogar, ihre Angehörigen seien selbst zu den Opfern zu zählen. Die mangelhafte Schuldauseinandersetzung wird auch durch eine kulturelle NS-Aufarbeitung gestützt, die trotz Sternstunden wie „Der Stellvertreter“, „Shoah“, “Schindlers Liste“ oder „Das Leben ist schön“ durch kontraproduktive Aufarbeitungsszenarien geprägt war. Salzborn erinnert an die Heimatfilme der 50er Jahre, in denen das NS-Regime entdämonisiert und entpolitisiert werde. Bis heute werden die Nazi-Täter häufig zu menschlich-liebenswerten Gestalten entstellt, um sich mit ihnen identifizieren zu können und die familiäre Schuldabwehr bestätigt zu finden. Trotz zahlreicher Fortschritte bei der massenhaften Konfrontation der Bevölkerung mit der Shoah in den siebziger Jahren und der Aufarbeitung der Opfergruppen und einer neuen Gedenkkultur ab den 90er Jahren erfolgt künstlerisch eher ein Rückfall in alte Muster der Selbstverherrlichung, Schuldumkehr, Entkontextualisierung und Geschichtsrelativierung. Typische  Beispiele dafür seinen Mainstream-Produktionen wie „Die Flucht“ „Der Untergang“, „Die Gustloff“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ – ein Rückfall in alte Selbstentschuldungsmechanismen. Jeder Deutsche wisse um die Vielzahl der Täterinnen und Täter. Diese blieben aber abstrakt. Es werde nicht erkannt,  dass vielfach die eigenen Eltern und Großeltern die Täter waren. Bereits 2002 hatte Harald Welzer zusammen mit weiteren Autoren in der familienbiografischen Studie „Opa war kein Nazi“ gezeigt, wie zahlreiche Deutsche ihre Täterschaft in Opfer oder Widerstandskämpfer umdefinieren. Bis heute sehen die Mehrheit der deutschen Vertriebenenfamilien und die künstlerischen und medialen Darstellungen dazu vor allem die Opferrolle der Betroffenen, weniger deren Mitwirkung an der völkischen Germanisierungspolitik als Ursache der späteren völkerrechtskonformen Vertreibung. Bis heute ist auch die Tätervorstellung der Deutschen sehr stark auf Abwehr und Eingrenzung ausgerichtet. Die massenhafte Abschiebung der eigenen Verantwortung auf Hitler, die NS-Elite, die Kriegsverbrecher, SS, Gestapo oder NSDAP-Mitglieder hat die eigene Rolle der Vorfahren im NS-Staat systematisch aus dem Fokus genommen. Salzmann stellt Fragen nach der individuellen Schuld der Menschen in der NS-Diktatur, die so noch nicht öffentlich gestellt wurden. Es  geht dabei um Erinnerungsverweigerung einer Schuld in vielfältigem Sinne der betroffenen Erlebnisgeneration: die Schuld, den offensichtlichen Lügen der Nazis geglaubt zu haben, die Schuld bei Juden nicht eingekauft zu haben oder die Straßenseite gewechselt zu haben, um den Nachbarn nicht zu begegnen, die Schuld Freundschaften beendet zu haben, Ehepartner verlassen und Menschen denunziert zu haben. Die Aufzählung ließe sich fortführen. Salzmann hat eine Debatte entfacht, die analytisch tief geht und niemanden schont. Er verweist die Mehrheit der Deutschen auf ihre individuelle Schuld während des NS-Regimes und zugleich uns auf unserer Verantwortung für heutige Entscheidungen.

Samuel Salzborn: „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“
Berlin/Leipzig, Hentrich & Hentrich Verlag, 2020
136 Seiten, 15 Euro

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