Ein Teil von uns

geschrieben von Axel Holz

15. Februar 2024

Uwe von Seltmanns Buch „Wir sind da! 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ist 2021 erschienen. Es wurde von einem Autor geschrieben, der sich selbstmit seiner Familiengeschichte und der Rolle seines Großvaters als SS-Mann im Warschauer Ghetto im Buch „Schweigen die Täter, reden die Enkel“ auseinandergesetzt hat – und mit dessen Vorstellung von der angeblichen Wertlosigkeit und Gefährlichkeit des Judentums, die bis heute nachhallt. Der Autor legt ein gut lesbares Werk vor, das den Reichtum des Judentums in Deutschland in Religion, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft über Jahrhunderte aufzeigt. Der Vorsitzende des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ erklärt in seinem Vorwort zum Buch, dass Jüdinnen und Juden im Verlaufe der Jahrhunderte dazu beigetragen haben, das Land aufzubauen und zum Blühen zu bringen. Dabei wird im Buch gelegentlich bei der Behandlung von Deutschland in den politischen Grenzen von 1914 übersehen, dass die Prägung der Deutschen durch das Judentum im deutschsprachigen Raum eben auch in Prag durch Franz Kafka, in Tschernowitz durch Rose Ausländer und Wien durch Sigmund Freud mit erfolgte.

Vielfalt jüdischen Lebens

Zweifellos ist über jüdisches Leben in Deutschland in der Gesellschaft nicht viel an aktivem Wissen bekannt. Von Salzmanns Buch kann mit seinem lexikonartigen Aufbau dazu beitragen, dass Leser schon mit einem Teil des Wissens aus diesem Buch zu Experten für jüdisches Leben in Deutschland werden können. Wichtig ist dabei, dass die Vielfalt jüdischer Einflüsse ebenso anschaulich dokumentiert wird wie die Abwendung von einer klischeehaften Vorstellung vom Judentum. Eine Ausgabe von Spiegel-Geschichte über „Jüdisches Leben in Deutschland“ erscheint zweifelhaft, wenn auf dem Deckblatt die Darstellung orthodoxer Ostjuden den Blick auf das Thema prägt, die bereits seit den zwanziger Jahren bis heute nur einen Bruchteil jüdischer Vielfalt repräsentieren. Vor allem befördert einer solcher Zugang zum Thema antisemitische Vorurteile, wie der Zentralrat der Juden kritisierte, um zu erfahren, dass eine solche Wirkung von den Machern nicht beabsichtigt worden sei.

Status einer Minderheit

Juden waren in Deutschland immer eine Minderheit. Vor der Machtübertragung an die Nazis lebten eine halbe Millionen Juden in Deutschland. Allein in New York lebten Mitte der zwanziger Jahre 1,6 Millionen und damit 40 Prozent der Einwohner. Vor der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten gab es in Westdeutschland noch 28.000, in der DDR ganze 500 in Gemeinden organisierte Jüdinnen und Juden. Erst durch den Zuzug von etwa 200.000 jüdischen Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion ist das jüdische Leben in Deutschland neu belebt aber auch deutlich anders geprägt worden als vorher. Etwa die Hälfte der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden ist in den jüdischen Gemeinden registriert. Als der jüdische Emigrant, Journalist beim britischen Daily Mirror und spätere Rabbiner Willam Wolff in den neunziger Jahren den Posten des Landesrabbiners in Mecklenburg-Vorpommern übernahm, lernte er erstmal russisch, um sich mit seinen Gemeindemitgliedern unterhalten zu können.

„Juden wurden verfolgt, weil sie anders waren; und sie waren anders, weil sie verfolgt wurden“, zitiert von Seltmann den Journalisten Reich-Ranicki. Das Buch beschreibt die jahrhundertlange Verfolgung der Juden einschließlich des heutigen Antisemitismus mit 2.000 erfassten antisemitischen Straftaten pro Jahr. Es stellt dies aber nicht in den Mittepunkt, sondern das vielfältige jüdische Leben über Jahrhunderte hinweg. Nach einer Standortbestimmung zur jüdischen Geschichte mit Blick auf Simon Dubnows 1929 vollendetes Standardwerk im ersten Kapitel folgt ein Kapitel zur „Gegenwartsbewältigung“ über verbreitete Unwissenheit, die Unvergangenheit der Vergangenheit und über jiddische Sprache und Kultur.

Was ist jüdisch?

In einem weiteren Kapitel porträtiert der Autor sieben prominente jüdische Persönlichkeiten der Neuzeit, darunter die Kantorin Svetlana Kundish, den Liedermacher Wolf Biermann und den Sänger der Band „Pankow“, André Herzberg. Herzberg stammt aus einer jüdisch kommunistischen Familie in der DDR. Er hat sich auf sein jüdisch sein zurückbesonnen und blickt in seinem autobiografischen Roman „Alle Nähe fern“ auf einen Staat zurück, der mit einer jüdischen Minderheit mehr als widersprüchlich umging, der Schweigen, Angst und Verdrängung selbst bei denen hervorrief, die sich bereits von der jüdischen Tradition verabschiedet hatten.

In weiteren zwei Kapiteln wird jüdisches Leben über Jahrhunderte in verschiedenen Teilen Europas nachgezeichnet und weiter von der Aufklärung bis heute beschrieben.  Darunter sind Lichtgestalten der Aufklärung, wie Moses Mendelssohn und Heinrich Heine. Viele dieser prominenten jüdischen Zeitgenossen kämpften um Gleichberechtigung, die Erlangung bürgerlicher Rechte, darunter auch die Jüdinnen Rahel Varnhagen von Ense, Henriette Merz, und Amalie Beer. Das Buch informiert über die Taufe von Juden, die damit den Weg sozialer Anerkennung und beruflicher Gleichstellung anstrebten, ebenso wie über Stadt- und Landjuden, über Juden deutscher Nation, über Jüdischsein in der Weimarer Republik und den Holocaust. Und nicht zuletzt berichtet das Buch über jüdisch sein heute, über den Schriftsteller Wladimir Kaminer, den Publizisten Richard Schneider, den Politiker Daniel Cohn-Bendit und über Tal Alon, die Gründerin einer hebräischsprachigen Zeitung in Berlin. Dieses Kapitel hätte im Buch noch ausführlicher sein können, denn Letzteres macht jüdisches Leben heute aus und ist vielen kaum bekannt.