Unerwünschte Opfer in Westdeutschland
14. November 2025

Mit ihrem Buch „Unerwünscht“ beleuchtet Stefanie Schüler-Springorum den westdeutschen Umgang mit den Verfolgten des Naziregimes. Es wirft einen anderen Blick auf die vermeintliche Erfolgsgeschichte der Deutschen bei ihrer Vergangenheitsbewältigung, die auch im Ausland immer wieder betont wird. Zu Wort kommen Nazi-Opfer, die nach 1945 erneut Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt waren. Auf zweihundert Seiten zeigt die Autorin eine Geschichte westdeutscher Demokratie auf, die wenig mit erfolgreicher Vergangenheitsbewältigung zu tun hat.
Die renommierte Historikerin Stefanie Schüler-Springorum stellt die Nachkriegsgesellschaft erstmals aus der Sicht der Menschen dar, die im NS-Regime verfolgt wurden. Viele Nazi-Opfer mussten um ihre Anerkennung kämpfen und neue Diskriminierungen erfahren. Die Autorin geht noch einen Schritt weiter. Für zahlreiche Opfer war das Leid nach dem Krieg nicht vorbei. Sie waren im Großteil der Bevölkerung und bei Behörden schlichtweg unerwünscht, so ihr zusammenfassendes Urteil. Nach 1945 gab es nicht weniger Antisemitismus und Rassismus, nicht weniger Hass auf Homosexuelle, Sinti und Roma, sondern wahrscheinlich mehr, konstatiert die Autorin. Unerwünscht waren nicht nur Juden, die etwa auf den Schwarzmärkten der Nachkriegszeit von Gesetzeshütern als „feilschende“ jüdische Displaced Persons erneut stigmatisiert wurden. Mit ähnlicher Absicht wurden Sinti und Roma als „Landfahrer“ durch Behörden behandelt, drangsaliert und vielfach kriminalisiert. Dazu wurde die polizeiliche „Landfahrer-Datei“ der Nazis über 30.000 Sinti und Roma weiter polizeilich zur Ausgrenzung genutzt. Überlebende Menschen mit Behinderungen, die von den Nazis als „Erbkranke“ stigmatisiert wurden, kämpften oft erfolglos um die Anerkennung als Nazi-Opfer und für ihr Recht auf Entschädigungen. Mittellose ehemalige Zwangsarbeiter wurden von Bevölkerung und Behörden häufig als „marodierende Osteuropäer“ diskriminiert. Überlebende Homosexuelle wurden in der Bundesrepublik auf der Basis des berüchtigten Paragraphen 175 in der strengen Fassung von 1935 bis 1969 nicht selten erneut verfolgt. So hatte Kurt Gudell als Homosexueller unter der Nazi-Herrschaft Zuchthaus, Folter und KZ überlebt. Er unternahm nach dem Krieg vergeblich mehrere Versuche, die NS-Urteile gegen ihn aufheben zu lassen und starb schließlich krank und verarmt in Berlin. Hass und Ressentiments waren nach dem Krieg im Denken der Menschen weit verankert mit Auswirkungen bis heute.
Die Autorin widmet sich in diesem Buch besonders denjenigen, die sich im Gegensatz etwa zu den politisch Verfolgten kaum in Organisationen und Interessenvertretungen zusammenfanden und ohne diese Solidarität besonders unter der erneuten Diskriminierung litten. Sie verweist auch darauf, dass fast alle Initiativen zur Entschädigung der Opfer und zur Erinnerung nicht etwa vom Staat sondern von den ehemals Verfolgten selbst ausgingen. Die fortgesetzten Praktiken der Verfolgung werden insbesondere mit Blick auf die Sinti und Roma sowie die nach dem Strafgesetzbuch als homosexuell Kriminalisierten dargestellt. Diese Darstellungen sind für den Leser oft kaum zu ertragen. Seite um Seite begegnen uns Ignoranz, Gleichgültigkeit, Verleugnung und Ablehnung in den Erzählungen jüdisch Verfolgter, Sinti und Roma, von Homosexuellen und ehemaligen Zwangsarbeitern. Wir erleben die spießige Empathielosigkeit deutscher Behörden, wenn etwa schwer erkämpfte kleine Entschädigungen um bereits erhalte Sozialleitungen wieder gekürzt werden.
„In Stefanie Schüler-Springorums Nachgeschichte des Nationalsozialismus scheinen Kontinuitätslinien von Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Homophobie ungefiltert auf, Ressentiments, die zugleich erklären, was uns heute als rechter Populismus gegenübertritt. Sie hat diese Geschichte mit Empathie für die verschiedenen Opfergruppen faktensicher erzählt und dabei umsichtig die Balance zwischen Parteilichkeit und wissenschaftlicher Distanz austariert“, kommentiert Ludger Heid treffsicher in der „Süddeutschen Zeitung“. Die Autorin erläutert präzisierend, dass sie mit dem Begriff der Verfolgung nach 1945, „nicht etwa eine Kontinuität mit den im nazionalsozialistischen Deutschland begangenen Verbrechen nahelegt. … Vielmehr geht es darum, das Potenzial und die Bandbreite dieser aggressiven Taten deutlich zu machen. Sie umfassen politische Hetze, spontane zivile, aber auch polizeiliche Gewalt sowie Fälle beharrlicher Diskriminierung“ (S. 116). Die Autorin will mit dem Buch dazu beitragen, „unser Wissen über die Geschichte unseres Landes zu erweitern, mit dem Ziel, dass die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit anschlussfähig wird an andere Erzählungen“, nämlich die der Opfer (S. 196).


