Hang zum Autoritären
16. Dezember 2020
Zum zehnten Mal ist die Leipziger Mitte-Studie über diskriminierende Einstellungen in der Gesellschaft erschienen. Sie knüpft an die Bielefelder Heytmeier-Studien der 80er Jahre an und nimmt die Mitte der Gesellschaft in den Fokus. Die weite und stabile Verbreitung diskriminierender Einstellungen führt nicht nur in der Studie, sondern grundsätzlich den falschen Ansatz der Extremismus Theorie ad absurdum, der nicht nur das Denken der Innenbehörden seit den 70er Jahren prägt, sondern auch breite Bevölkerungsteile fehlorientiert hat. Denn nicht extreme Einstellungen an den Rändern sind die Hauptgefahr für die Demokratie, sondern verfestigte diskriminierende Einstellungen in der Gesellschaft, die sich zu autoritären Denkmustern ausweiten. Diese Erfahrung machen gerade Politik und Staat mit den Querdenkern, deren Verhalten sie nur schwer deuten können, weil es nicht in tradierte Erklärungsmuster passt. Seit 2016 heißt die Leipziger Studie, die von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung unterstütz wird, Autoritarismus-Studie. Sie zeigte spätestens 2016 unter dem Titel „Die enthemmte Mitte“ eine zunehmende Polarisierung und Radikalisierung der antimodernen und autoritären Milieus, die in der Mitte der Gesellschaft verortet wurden. Diese Radikalisierung zeigt sich in steigender Gewaltbereitschaft, durch Legitimationsverlust der demokratisch verfassten Gesellschaft und die Abwendung bestimmter Milieus von ihr. Gleichzeitig stößt diese Flucht ins Autoritäre in den letzten Jahrzehnten auf einen Liberalisierungsschub in der Gesellschaft. Die Emanzipation von Frauen, Schwulen und Lesben, von Kindern und Migranten hat die 90er Jahre maßgeblich geprägt. Dies fand in gesetzlichen Änderungen seinen Niederschlag, als 1997 die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde, Menschenrechte auch für Kinder 2000 anerkannt wurden, das Staatsbürgerrecht vom Abstammungsprinzip abrückte und 2017 die Ehe für alle gesetzlich verankert wurde. Die neue von Oliver Decker und Elmar Brähler herausgegebene Autoritarismus-Studie heißt „Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität“. Sie zeigt insgesamt eine gestiegene Demokratiezufriedenheit, die aber regional unterschiedlich ausfällt und im Osten schlechter dasteht. Sie verdeutlicht aber auch, dass Demokratiezufriedenheit gestärkt werden kann, wenn Demokratie als gestaltbar erlebt wird. Bürgerinnen und Bürger stoßen aber immer wieder auf wirtschaftliche und soziale Zwänge eines entfesselten Kapitalismus mit seinem radikalisiertem Wettbewerbsdenken, dem sie unterworfen sind und die man auch autoritär nennen könnte. Dort wird eher pragmatisch entschieden, erscheint der Meinungsstreit lästig statt konstruktiv, wächst kaum Begeisterung für Pluralismus, Liberalität und aktives Mittun. Zugleich verbleiben ethnozentristische Einstellungen, Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit in der Gesellschaft auf hohem Niveau. Gestiegen ist der Glaube an Verschwörungsmythen. Antisemitismus verstärkt sich mit latenten Werten von 31 Prozent im Osten gegenüber 23 Prozent im Westen etwa in der Unterstellung, dass der Einfluss der Juden auch heute noch zu groß sei. Alle Dimensionen des Rechtsextremismus korrelieren zugleich mit Antifeminismus und Sexismus. Mit dem apokalyptischen Sehnen wird bei vielen nicht nur das Ende der bürgerlichen Demokratie ausgedrückt, sondern auch die Hoffnung auf eine Erneuerung der „völkischen Einheit“, die Hoffnung auf einen neuen faschistischem Führer, so die Autoren im Vorwort.
Axel Holz
Autoritäre Dynamiken: Alte Ressentiments – neue Radikalität / Leipziger Autoritarismus Studie 2020 (Forschung psychosozial) (Deutsch) Taschenbuch – 1. November 2020 von Elmar Brähler und Oliver Decker (Herausgeber, Mitwirkende).