Extremismus-Begriff schadet der Jugendbildungsarbeit
28. April 2019
Zu diesem Schluss kommt der Reader „Das Extremismusmodell. Über seine Wirkungen und Alternativen in der politischen (Jugend-)Bildung und Jugendarbeit“ des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismus-Arbeit IDA in Düsseldorf. IDA ist seit seiner Gründung 1990 gewachsen und bildet mit mittlerweile 30 Mitgliedsverbänden ein breites Spektrum jugendpolitischer und jugendverbandlicher Organisationen ab. Insbesondere in der Debatte um die „Demokratieerklärung“ für förderwürdige Projekte von 2011 habe sich im öffentlichen Diskurs gezeigt, dass der Extremismus-Begriff wenig trennscharf definiert oder kritisch hinterfragt wird. Mit dem Reader versucht IDA nun den Diskurs um das Extremismus-Modell zu bündeln, die Anwendung des Begriffs für die politische Arbeit zu hinterfragen und Alternativen zu entwickeln.
Der Begriff Extremismus ist als antikommunistischer Kampfbegriff im Kalten Krieg entstanden und lehnt sich stark an den Totalitarismus-Begriff an. Mit dem wurde politisch vor allem im Historikerstreit der achtziger Jahre durch den Vergleich von mittlerweile historischen Gesellschaftsmodellen versucht, die Singularität der Naziherrschaft in Deutschland zu relativieren, die jahrzehntelangen Versäumnisse bei der Aufklärung der Naziherrschaft zu vertuschen und die Ursachenforschung für die Entstehung diskriminierender Einstellungen und undemokratischer Prozesse zu verdecken. Mit der Einführung des Extremismus-Begriffs in die politische Bildungsarbeit in den achtziger Jahren wurde diese Fehlsteuerung fortgesetzt. Im Umfeld von Geheimdiensten entstanden, gehört er heute trotz einer kritischen staatlichen Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit v.a. seit Ende der 90er Jahre bei Inlandsgeheimdiensten, in der politischer Bildung aber auch in der Presse und Teilen der Zivilgesellschaft zu einem oft unkritisch hingenommenen Instrument der politischen Bewertung und öffentlichen Brandmarkung. Die Extremismus-Theorie wird auch immer wieder systematisch durch die kostenlosen Verteilung des von Verfassungsschützern und Extremismus-Experten geprägten „Jahrbuchs für Extremismus“ und durch andere derartige Schriften in Bildungseinrichtungen und Bibliotheken gespült, um den Diskurs im Sinne dieser Theorie zu beeinflussen. Dabei steht die „Hufeeisentheorie“ von den vermeintlichen Extremen am Rande der sonst makellos demokratischen Gesellschaft schon lange in der Kritik. Sie entlaste die gesellschaftliche Mitte mit hohen Anteilen an diskriminierenden Einstellungen, setzte linke und rechte Aktivitäten gleich, kriminalisiere antifaschistisches und antirassistisches Engagement, kritisiert Bernhard Weidinger im Reader. Insbesondere wird der Ungleichheitsansatz, die Folge eines hierarchischen Menschenbildes und die Notwendigkeit von Autorität und Unterordnung bei der Analyse von Rechtsextremismus nicht klar benannt, während es in der linken Diskussion aktuell keine ernstzunehmenden „extremen“ Ansätze für die Infragestellung von Grundrechten und bei der Anerkennung der Gleichheit der Menschen gäbe. Gerade heute wird deutlich, dass populistische Parteien und Bewegungen zunehmend mit nazistischem und völkischem Gedankengut sympathisieren und damit nicht nur am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft auf beachtliche Resonanz stoßen. Die Orientierung der Extremismus-Theorie am bürgerlichen Verfassungsstaat erscheint problematisch, weil die Anhänger der Theorie damit dem heute vorherrschenden Arrangement der extremen Rechten mit der Demokratie auf dem Leim gehen, so Weidinger. Deshalb sei die Bestimmung antidemokratischer Gesinnung weniger formal, sondern vielmehr auf inhaltliche Kriterien abzustellen. Damit würde sich der Blick auf die Haltung der Akteure zur Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens richten als ein nicht abgeschlossener bzw. nicht abzuschließender Prozess. Demokratiefeindlichkeit zeige sich zum Beispiel in der Geringschätzung des Individuums und der Masse als demokratischer Souverän, in der Verächtlichmachung von demokratischen Prozessen, in der Verherrlichung staatlicher und patriarchaler Autorität, in der Ethnisierung des Sozialen und zuletzt in der Fronstellung gegen Bewegungen, die sich Demokratisierung als gleichberechtigte Teilhabe auf die Fahnen geschrieben haben. Die Infragestellung von Grundrechten und Demokratie wird heute vor allem deutlich in Form der Naturalisierung gesellschaftlich produzierter Ungleichheit, durch Forderungen nach Rückbau demokratischer Errungenschaften als Folge vermeintlicher ökonomischer und administrativer Sachzwänge und schließlich durch eine kulturalisierende Ursachenbestimmung gesellschaftlicher Entwicklungen.
Wie ungeeignet der Extremismus-Begriff für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen ist, zeigen die Autoren an zwei Beispielen sehr anschaulich. Da ist zum einen der zeitweise als potentiell linksextremistisch gebrandmarkte Münchner Verein a.i.d.a. Nach jahrelangem Rechtsstreit konnte nicht nachgewiesen werden, warum der Verein linksextremistisch sein soll. Sowohl der Eintrag im Verfassungsschutzbericht als auch der Entzug der Gemeinnützigkeit mussten zurückgenommen werden. Geblieben ist eine ungestrafte nachhaltige Rufschädigung und die jahrlange Behinderung antirassistischer Dokumentations- und Öffentlichkeitsarbeit. Auf der anderen Seite zeigen die Autoren, wie in Sachsen jahrelang die Gefahr neonazistischer und rechtsextremer Einflussnahme und Gewalt durch die Landesregierung systematisch beschönigt wurde, die durch den maßgeblichen Begründer des Extremeismusbegriffs Prof. Jesse diesbezüglich nachhaltig beraten wurde. Zugleich wird deutlich gemacht, wie mit dem Extremismus-Ansatz zivilgesellschaftliche Initiativen in Sachsen über Jahre systematisch behindert, torpediert und zerschlagen wurden, die sich gegen rassistische Meinungsmache und zunehmende rechte Gewalt gerichtet hatten. Es wird Zeit, dass sich nicht nur Einrichtungen der Jugendarbeit, sondern auch Gewerkschaften, Organisationen sowie emanzipatorisch und teilhabeorientierte Parteien mit dem Versagen der Extremismus-Keule auseinandersetzen, alternative menschrechtsorientierte Ansätze politisch diskutieren und auch institutionell in den von ihnen regierten Bundesländern verankern.