Der Hitler-Stalin-Pakt als europäisches Ereignis
27. Oktober 2020
Geheimvertrag, Nichtangriffsvertrag
Die Historikerin Claudia Weber von der Viadrina-Universität Frankfurt Oder hat 80 Jahre nach Abschluss des Nichtangriffspakts zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion ein neues Buch über den umstrittenen Pakt vorgelegt. In einer Video-Konferenz der Fridrich-Ebert-Stiftung nannte sie das Vertragswerk ein europäisches Ereignis. Dieser Blick ist neu, ebenso wie der Bezug zur Kontinuität erfolgreicher wirtschaftlicher Beziehungen beider Länder seit dem Rapallo-Vertag 1922 und den detaillierten Informationen über die Organisation des Bevölkerungsaustausches von polnischen und ukrainischen Bürgern im nun von Deutschland und der Sowjetunion besetzten Polen. Die europäische Dimension besteht zum einen im Kontext der europäischen Konfliktparteien vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges, die sich gegenseitig nicht trauten, vorhandene Bündnisse missachteten, jeweils nur für sich Vorteile bei den Gesprächen erhofften und den Eroberungs- und Vernichtungswillen der Nazis unterschätzen. Er besteht andererseits darin, dass mit der Interessenabgrenzung der Einflussgebiete zwischen Deutschland und der Sowjetunion weniger durch den Nichtangriffspakt vom 23.09.1939 als vielmehr durch den Freundschaftvertrag einen Monat später Einflussgebiete abgesteckt wurden, die Ausgangspunkt für eine territoriale und bündnispolitische Neuordnung Europas nach dem 2. Weltkrieg waren. Dies übrigens nicht ohne Widersprüche und Konflikte zwischen den Vertragsparteien dieses bewusst auf Zeit von beiden Seiten konzipierten Bündnisses. Bei der völkerrechtswidrigen Aufteilung Polens folgte die Sowjetunion mit ihrer Besetzung polnischer Gebiete der von den Alliierten nach dem ersten Weltkrieg vereinbarten Curzon-Linie. Die Autorin geht nicht darauf ein, dass Polen die Gebiete östlich davon selbst bis 1922 erobert hatte. Mit Bessarabien und dem Baltikum eroberten die Sowjetunion in Absprache mit Nazi-Deutschland Interessengebiete, die auch nach der Potsdamer Konferenz Bestand hatten. Im Freundschaftsvertrag mit Deutschland wurde aber auch Interessengebiete in Südosteuropa und Finnland fixiert. Außer der Besetzung des Tschernowitzer rumänischen Gebietes durch die Sowjetunion, die Nazi-Deutschland anerkannte, gab es keine Einigung über Einflussgebiete mit den Nazis in Südosteuropa und Finnland, wo die Nazis gegen Stalins Protest mit der Wehrmacht vor der Besetzung Norwegens Transportknotenpunkte kontrollierten. Unbestritten ist bis heute die verheerende moralische Wirkung, die der Hitler-Stalin-Pakt auf die kommunistische Bewegung hatte. Neben Enttäuschung und Desorientierung gab es auch Versuche der propagandistischen Rechtfertigung. Sicher hat die Offenlegung des Paktes nicht den Untergang der Sowjetunion herbeigeführt, war aber Ausdruck von deren Widersprüchen und zivilisatorischen Fehlleistungen bis zum Verbrechen. Während die Ermordung von 20.000 polnischen Offizieren und Soldaten durch das NKFD, die Nazi-Deutschland nicht aufnehmen wollte, im Herbst 1989 bekannt wurde, blieb der Hitler-Stalin-Pakt auch unter Gorbatschow ein Staatsgeheimnis. Erst in einer der letzten Sitzungen des Sowjetkongresses wurde der Pakt als Aggressionsverbrechen verurteilt. Die Details dazu werden erst in Claudia Webers Buch plastisch deutlich. Nachdem die Sowjetunion vereinbarten Gebiete bis zum Bug besetzte, wurde eine gemeinsame Militärkommission gebildet. Sie sollte mit Vertretungen der Partner auf dem jeweils durch die Gegenpartei besetztem Gebiet einen Bevölkerungsaustausch organisieren, der unzähliges Leid bei der Umsiedlung oder in den überfüllten Auffangorten erzeugte. Dabei wurde von beiden Seiten besonders ablehnend mit den Juden umgegangen, die auf der Flucht nicht selten im neuen Grenzgebiet von beiden Seiten beschossen wurden. Insgesamt wurden über 300.000 Menschen in die Sowjetunion umgesiedelt und dort oft weiter nach Osten deportiert. Nach Polen Umgesiedelte waren später nicht selten Opfer der Nazi-Mordmaschine. Auf sowjetischer Seite bestand wenig Verständnis für Entschädigungsansprüche von Umgesiedelten, deren Besitz sie zu Sowjeteigentum erklärten. Im November 1940 besuchte Außenminister Molotow Hitler, der ihn in Berlin zu den Klängen der Internationale begrüßen ließ. Zu diesem Zeitpunkt war der Vertrag bereits brüchig und Hitler hatte längst den Überfall auf die Sowjetunion beschlossen. Zwar versuchten Stalins Beauftragte den Vertrag weiter zu erhalten, indem sie sich nun zu großzügigen Entschädigungen bereit erklärten und Stalin auch die Auflösung der Komintern anbot. Es bleibt aber ein Mythos, dass Stalin und seine Vertrauten vom Überfall auf die Sowjetunion überrascht gewesen wären. Ein Bündnis mit dem Westen, das noch wenige Tage vor dem Hitler-Stalin-Pakt mit den Nazis vom Westen faktisch abgewiesen wurde, war nach dem Überfall auf die Sowjetunion schnell möglich. Churchill wies in seiner historischen Rede nach dem Überfall auf die Sowjetunion alle Anbiederungen Ribbentrops zurück. Bereits 1942 traf er sich mit Stalin bei Moskau. Das war die Geburtsstunde des alliierten Bündnisses, das später gemeinsam das Naziregime zerschlug.
Claudia Weber Der Pakt, Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz C.H. Beck Verlag, München 2019 ISBN 9783406735318 Gebunden, 276 Seiten, 26,95 EUR