Der 30. Januar 1933
26. Januar 2023
Datum und Ereignis sind bekannt: Adolf Hitler wurde zum Reichskanzler ernannt. Die Interpretation dieses Ereignisses ist jedoch bis heute umstritten. Die einen nennen es Machtergreifung. Damit wird ausgedrückt, dass die Weimarer Demokratie dieses Ereignis nicht verhindern konnte; es sei „schicksalhaft“ gewesen.
Die anderen nennen es Machtübernahme. Dies ist der Versuch, den Akt der Ernennung eines Faschisten und erklärten Gegners der Weimarer Republik einigermaßen neutral zu beschreiben; Hitler übernahm die Macht, die Reichspräsident Paul von Hindenburg ihm übergab.
Wir nennen es Machtübertragung. Damit soll beschrieben werden, es handelte sich um einen bewusst herbeigeführten Akt. Denn es bedurfte einer Reihe von Vorgesprächen, Verhandlungen und großer Überzeugungskunst, diesen Akt zu vollziehen. Die NSDAP verfügte nicht über eine Mehrheit im Reichstag (bei der Reichstagswahl im November 1932 hatte die NSDAP 33,1 % der Stimmen erhalten). Damit beschreiben wir auch, die Einsetzung Adolf Hitlers als Reichskanzler war mehr als ein „normaler“, formaler demokratischer Akt. Die Ernennung zum Reichskanzler wurde von maßgeblichen Parteien des Weimarer Parlaments geduldet oder gefördert, seine Ernennung wurde aus Kreisen des deutschen Militärs sowie von einflussreichen Vertretern der Wirtschaft geduldet, gefordert oder gar gefördert.
Was bedeutet dieses Datum für Demokraten, Antifaschisten und unsere Organisation? Für die Vertreter der liberalen und bürgerlichen Demokratie bedeutet die Machtübertragung an Adolf Hitler die Bankrotterklärung der gerade mal vierzehnjährigen Demokratie der Weimarer Republik. Die repräsentative parlamentarische Demokratie war auch an ihren eigenen Maßstäben und Regeln gescheitert. Für die parlamentarischen Vertreter der Arbeiterbewegung, also SPD und KPD und die Gewerkschaften, bedeutet die Machtübertragung an Adolf Hitler das Eingeständnis ihrer Niederlage gegenüber ihrem erklärten und tatsächlichen Hauptfeind, dem deutschen Faschismus. Die Erkenntnis, dass die Machtübertragung an Adolf Hitler auch der Zerstrittenheit und Uneinigkeit der parlamentarischen und außerparlamentarischen Arbeiterbewegung geschuldet war, wuchs mit der Stabilisierung der Macht der Nazis; sie entstand in den Zuchthäusern, Konzentrationslagern, im Widerstand und im Exil.
Für unsere Organisation, VVN – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, bedeutet die Machtübertragung an Adolf Hitler so etwas wie eine Geburtsurkunde. Kein Antifaschismus ohne Faschismus, keine Opfer ohne Täter, keine Verfolgten ohne Verfolger. Mit welcher Brutalität die Nazis ihre Gegner vernichten und ihre erklärten Ziele mit Terror durchsetzen würden, haben viele Verfechter der Weimarer Demokratie nicht geglaubt. Das reichte von der Einschätzung, man möge die Nazis mal regieren lassen, dann würden sie sich selbst abwirtschaften, über den Versuch, durch Annäherung an die Position der Nazis Schlimmeres zu verhindern, bis dahin, die Arbeiterbewegung würde des braunen Mobs schon Herr werden. Auch wurde der Masseneinfluss der Nazis und ihrer Organisationen unterschätzt. Die Arbeiterbewegung setzte darauf, ihre guten Argumente werden die Menschen überzeugen und von den Nazis abbringen. Die KPD setzte auf ihre Mobilisierungsfähigkeit gegen die Nazis. Die bürgerlichen Parteien vertrauten auf die Macht des Wahlzettels. Es kam anders. Keine 48 Stunden feierten die Nazis und demonstrierten ihre erworbene Macht durch Fahnenmeere und Aufmärsche, mit markanten Reden und triumphierenden Artikeln in den einschlägigen Zeitungen. Dann begann der Terror, der im faschistischen Expansionskrieg und der millionenfachen Ermordung von Menschen, überwiegend Jüdinnen und Juden, in den Konzentrations- und Vernichtungslagern mündete, also Auschwitz hervorbrachte.
Am 27. Januar der Opfer der nazistischen Barbarei zu gedenken, heißt daher auch, den 30. Januar 1933 mitdenken. Über Terror und Verbrechen des NS-Regimes zu berichten, ihn in Erinnerung zu behalten, vor den Gefahren zu mahnen und zu warnen, die Täter und Mitläufer zu benennen, der Opfer zu gedenken und die Frauen und Männer des Widerstandes zu ehren, dazu gibt es genügend Anlässe in diesem Jahr. Es steht uns gut an, sich der Lehren zu erinnern, die Verfolgte, der Widerstand und die Anti-Hitler Koalition spätestens ab 1945 gezogen haben. Dazu zählen:
• Den Charakter des Faschismus an der Macht und die Bedingungen seiner Entstehung klar zu benennen und ihn nie wieder zu unterschätzen.
• Die Einheit der Arbeiterbewegung herzustellen und die Zusammenarbeit neuer emanzipatorischer Bewegungen zur Verteidigung der Demokratie zu organisieren.
• Das Völkerrecht und die internationale Zusammenarbeit auszubauen und zu stärken.
• Demokratie als antifaschistisch und friedliebend zu verstehen, statt Aufrüstung und einen starken Staat
zu beschwören.
Abschließend bleibt, die Mahnung eines Zeitzeugen zu zitieren:
„1933 wäre verhindert worden, wenn alle Hitlergegner die Einheitsfront geschaffen hätten. Dass sie nicht zustande kam, dafür gab es für die Hitlergegner in der Generation meiner Eltern nur eine Entschuldigung: Sie hatten keine Erfahrung, was Faschismus bedeutet, wenn er einmal an der Macht ist. Aber heute haben wir diese Erfahrung … Für alle zukünftigen Generationen gibt es keine Entschuldigung mehr, wenn sie den Faschismus nicht verhindern.“ Peter Gingold, Paris – Boulevard St. Martin No. 11, Köln, 2009, S. 28f.