»Colonia Dignidad«: Ein Buch zur BRD-Außenpolitik im Umgang mit der Sekte in Chile
12. Dezember 2022
Mitte Oktober hat Bodo Ramelow (Die Linke) als Vorsitzender des Bundesrats und bisher ranghöchster Vertreter Deutschlands zusammen mit Jens-Christian Wagner, dem Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Chile besucht. Deutsche Politik und Justiz ist aber bereits seit den 1960er Jahren mit dem wohl größten deutschem Verbrechen der Nachkriegsgeschichte befasst, ohne diese Verbrechen aktiv zu verhindern oder wirkungsvoll zu verfolgen.
Jan Stehle hat auf 600 Seiten den Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961 bis 2020 untersucht. Es geht um die kriminelle Organisation »Colonia Dignidad« (CD) des Sektengründers Paul Schäfer, der bereits Anfang der 1960er Jahre einer Strafverfolgung wegen sexualisierter Übergriffe an Kindern durch die Flucht nach Chile entkam. Die tausendfachen Sexual-Verbrechen wurden erst mit der Flucht des Ehepaars Georg und Lotti Irene Packmor 1985 öffentlich und durch den BRD-Botschafter in Chile, Hermann Holzheimer, an das Auswärtige Amt weitergeleitet.
Ein Haftbefehl gegen Schäfer wurde bereits 1970 auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bonn gelöscht. Auch weitere Verbrecher aus der Führungsriege des Terrororts in Chile wurden nach der beginnenden Aufklärung und juristischen Verfolgung ab den 90er Jahren in Chile trotz ihrer Flucht nach Deutschland in der Bundesrepublik niemals angeklagt geschweige denn ausgeliefert. Bereits in den 1960er Jahren waren durch die Flucht mehrerer Kolonisten die sklavenartigen Verhältnisse der Kolonie des Sektenführers Schäfer vielfach in der Presse öffentlich gemacht worden, ohne dass bis zum Sturz der Diktatur jemals durch die chilenische und deutsche Regierung eine wirksame juristische Verfolgung der Verbrechen erfolgte.
Im Gegenteil, das Opfer Wolfgang Müller wurde selbst wegen angeblicher Verleumdung zu fünf Jahren Haft in Chile verurteilt. Der Schäfer-Sekte gelang es, in engem Kontakt mit Mächtigen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik erfolgreich Zeugenaussagen mit eidesstattlichen Erklärungen zu begegnen. Sie erreichte, dass die Veröffentlichung von Presseartikeln des Stern und die Veröffentlichung der Recherche von Amnesty International juristisch massiv erschwert wurde. Ziel der Lobbyarbeit war es, die angebliche „Kolonie der Würde“ als wohltätige Gemeinschaft mit sozialem Auftrag bis in deutsche Gerichte zu platzieren.
Menschenrechtsverletzungen und Schutz der Täter
Zwar wird durch Stehle das Gerücht über die Kolonie als Zufluchtsort deutscher Nazis ausgeräumt, aber dennoch hatten deutsche Alt-Nazis engsten Kontakt zur Kolonie. So pflegte Gerhard Mertins, einer der Befreier Benito Mussolinis, später als BND-Agent engste Kontakte zum chilenischen DINA-Geheimdienstchef Manuel Contreras, unter dessen Leitung tausende Oppositionelle verschwanden. Mertins organisierte Waffengeschäfte nach Chile, in die auch die CD verwickelt war.
Noch in der 1980er Jahren wurden Unmengen an modernen Waffen und Ausrüstung auf dem Gelände der CD gefunden. Dies verdeutlicht einmal mehr, dass die Kolonie als sektenartig geführtes Gefängnis mit Folterkeller, Prügelorgien und Sklavenarbeit angesehen werden sollte. Es war ein Ort von Mord, Entführung, Vergewaltigung, Experimenten mit Psychopharmaka und Gehirnwäsche, ein Platz der Zensur, von Rentenbetrug, Waffenschmuggel und Giftgasproduktion. Hier kamen dutzende Kolonisten um und hunderte chilenische Oppositionelle wurden gefoltert und ermordet. Jan Stele beschreibt die Verbrechen detailliert über 60 Seiten. Spätestens seit 1985 trügen bundesdeutsche Behörden die Mitverantwortung für die Fortsetzung der Verbrechen in der CD, indem sie sich zwar mit der CD befassten, aber keinerlei Beitrag zur Aufklärung der Verbrechen leisteten, beklagt der Autor. Zudem betrachteten die deutschen Behörden die CD-Verbrechen stets als Einzeltaten, ohne deren systematischen Zusammenhang zu berücksichtigen. Die politische Grundsatzentscheidung der Bundesregierung, auch nach 2005 eine vollständige Auflösung der Kolonie zu verhindern, trage dazu bei, die Machtstrukturen der Sektengemeinschaft als Folklorepark „Villa Bavaria“ zu bewahren und die kritische Aufarbeitung des so gestärkten Schweigekartells zu verhindern.
Weitere Aufklärungsschritte und Gedenkmaßnahmen erforderlich
Der Autor nennt abschließend wichtige politische Schritte der Aufklärung, die bisher ausgeblieben sind. Dazu zählt die Schaffung einer Wahrheitskommission, die nicht nur die Verbrechen der CD aufklären, sondern auch die Verantwortlichen dafür benennen soll, einschließlich der politischen Mitverantwortung der Bundesrepublik. Dafür müssten alle zum Fall CD existierenden Akten offengelegt werden, die es den Opfergruppen ermögliche, ein Leben in Würde zu führen, unabhängig von den Strukturen der Post-Sektengemeinschaft. Juristisch fehle bis heute die Einordnung der Sekte als kriminelle Organisation, die systematisch Verbrechen begangen hat. Dies würde auch eine Verurteilung der Täter zur Beihilfe zum Mord ermöglichen, ohne dass eine persönliche Tötungsabsicht nachgewiesen werden müsse. Zudem solle ein Gedenk-, Dokumentations- und Lernort eingerichtet werden, um umfassend über die Verbrechen der CD aufzuklären. Dazu zähle auch eine Überprüfung des offiziellen und versteckten Vermögens der CD, das den Opfern zu Gute kommen solle.