Der Nürnberger Ärzteprozess
17. Februar 2019
Ärzteprozess, Euhanasie, Truman, Walter B. Beals
Dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gegen die Spitzen des NS-Regimes vor dem Internationalen Militärgerichtshof folgten weitere zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse vor einem nationalen US-amerikanischen Militärtribunal nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10. Die gesamte Prozessserie fand zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 statt. In den zwölf thematischen Nachfolgeprozessen wurden Gruppen von angeklagten Kriegsverbrechern einzeln verhandelt – gegen Ärzte, den Fliegergeneral Milch, Verwaltungsbeamte des Wirtschaftshauptamtes, Juristen, Industrielle wie Flick, faschistische Kolonisatoren des Rasse- und Siedlungshauptamts, Geiselmörder in Südeuropa, Kommandeure der Einsatzgruppen, Unternehmer der IG Farben, Minister und Manager im Wilhelmstraßenprozess, die Firma Krupp und Mitglieder des Oberkommandos der Wehrmacht.
Eigentlich sollte ein zweiter internationaler Prozess gegen deutsche Wirtschaftsbosse nach dem Hauptkriegsverbrecherprozess folgen. Doch dem neuen US-Präsidenten Truman schien das im sich anbahnenden Kalten Krieg zu riskant. Im Frühjahr 1946 sagte er diesen Prozess ab. Es folgten die zwölf genannten Themen-Prozesse. Der Ärzteprozess stand am Anfang, weil sich die Alliierten hier auf Unterlagen und Verdächtige stützen konnten, die Aussicht auf harte rechtskräftige Verurteilungen versprachen. Schließlich wurde durch medizinische Menschenversuche, wissenschaftlich verbrämte Morde für eine Skelettsammlung und den Massenmord an psychisch Kranken und Unangepassten der Aktion T4 mit Hilfe einer ganzen Berufsgruppe hunderte KZ-Häftlinge durch Medizinversuche gequält oder ermordet und über 100.000 behinderte Menschen ermordet.
Vor dem US-Gericht des Obersten Richters des Supreme Court des Staates Washington Walter B. Beals standen vom 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947 innerhalb von 139 Prozesstagen 23 Angeklagte, 20 Mediziner und drei Verwaltungsbeamte, darunter auch Hitlers Begleitarzt und Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Karl Brandt. Einige der Täter waren bereits durch Suizid verstorben oder waren im Dachauer Prozess verurteilt worden. So fehlten auf der Anklagebank der Reichsleiter und Chef der Kanzlei des NSdAP-Führers Philipp Bouhler, der zur Organisationszentrale des Behindertenkrankenmordes gehörte und sich das Leben nahm. Auch Reichsgesundheitsführer Dr. med. Leonardo Conti hatte sich bereits in seiner Zelle umgebracht, als ihm die Anklage bevorstand. Der höchstgestellte Mediziner der SS, Reichsarzt Dr. jur. Robert Grawitz, hatte sich zusammen mit seiner Familie bei Kriegsende getötet. Andere, wie der Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe bis 1943, Prof. Erich Hippke, waren noch nicht ermittelt worden. Die einzige angeklagte Frau war die Ärztin des KZ Ravensbrück Herta Oberheuser. Mit auf der Anklagebank saßen u.a. der persönliche Referent des Reichsführers SS Dr. jur. Rudolf Brandt, SS-Oberführer in der Reichskanzlei Viktor Brack, sowie als Ärzte der stellvertretende Leiter der Reichsärztekammer Prof. Dr. med. Kurt Blome, Gruppenführer Prof. Dr. med. Karl Brandt, der oberste Kliniker der SS und Leibarzt Himmlers Prof. Dr. Karl Gebhardt und der Generaloberstabsarzt und Chef des Wehrmachtssanitätswesens Prof. Dr. med. Siegried Handloser. Ausschlaggebend für die Anklage war letztlich, in welchem Tempo es gelang, Beweismaterial zur Verfügung und damit den Prozess auf sicheren Grund zu stellen.
Die Angeklagten wurden in sieben Fällen zum Tode verurteilt und ein Jahr später hingerichtet. Fünf Angeklagte erhielten eine lebenslange Freiheitsstrafe, vier wurden zu Haftstrafen zwischen 10 und 15 Jahren verurteilt und sieben Angeklagte wurden freigesprochen. Das Gericht verhandelte als Anklagepunkte Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen. Der vierte Anklagepunkt der Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen wurde abgesetzt.
Die Opfer der verhandelten Verbrechen waren Männer und Frauen aus Konzentrationslagern, Angehörige mehrerer Nationen, Juden, Sinti und Roma. Einige von ihnen traten im Gerichtssaal auf. Die Verbrechen der Angeklagten waren unterschiedlicher Art. Ziel der mörderischen Experimente war es, verwertbare Erkenntnisse für Luftwaffe und Heer zu gewinnen. Das Leben der hunderten unfreiwilligen Opfer wurde bei medizinischen Versuchen nicht nur aufs Spiel gesetzt, sondern auch gezielt beendet, um mit Hilfe der toten Opfer weitere Erkenntnisse zu erzielen. So wurde der längere Aufenthalt im eiskalten Wasser an Häftlingen getestet, die Aufnahme von Meer- statt Normalwasser, wurden Infektionen von Fleckfieber erzeugt und beobachtet, Wunden verschmutzt, Sulfonamidversuche zur Bekämpfung von Infektionen getestet, Lost- und Phosgenversuche durchgeführt und schließlich für eine Skelettsammlung in Straßburg 86 jüdische Häftlinge des KZ Netzweiler ermordet und seziert.
Eines der größten Verbrechen der Nazi-Diktatur war die Sterilisierung Hunderttausender und Ermordung von etwa Einhunderttausend behinderten und unangepassten Menschen. Dafür wurden tausende Ärzte missbraucht. Tausende Ärzte wurden im vorpommerschen Alt Rehse indoktriniert und auf Euthanasie-Aufgaben in KZs, Tötungsanstalten für Behinderte sowie in Pflegeheimen und Krankenhäusern auf die Euthanasie vorbereitet. Die Ermordung von behinderten Menschen erfolgte schließlich in vier Phasen: im Rahmen der sogenannten Kinder-Euthanasie wurden 1939 bis 1945 5.000 Kinder ermordet. 1940 bis 1941 wurde 70.000 Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten im Rahmen der T4-Aktion in Tötungsanstalten wie Hadamar, Sonnenstein und Bernburg ermordet. Psychiatrische Landeskrankenhäuser dienten als Zwischenstation zu den Mordstätten. Etwa 20.000 KZ-Häftlinge wurden 1942 bis 1945 in Mordanstalten der T4-Aktion getötet. Schließlich wurden mit der Aktion Brandt 1942 bis 1945 weitere 30.000 Menschen durch Medikamente und Essensentzug ermordet, um für den steigenden Bedarf an Ausweichkrankenhäusern Platz zu schaffen. Dazu wurden behinderte Patienten in besonderen Anstalten in der Mitte und im Osten des Reiches konzentriert und ermordet.
Nie zuvor hatte es grausame medizinische Versuche in einer solchen Dimension gegeben wie im NS-Regime. Menschenversuche an wehrlosen Menschen hatten bereits vorher stattgefunden. Aber nie zuvor war eine Gruppe von Menschen als wertlos und lebensunwert abgestempelt worden. Deutsche Ärzte hatten in einem Ausmaß den Eid des Hippokrates und alle bereits vorhandene ethischen Standards gebrochen, dass es bis heute für die medizinische Zunft beschämend ist. Aktiv, wissentlich, organisiert und in vorauseilendem Gehorsam hatten deutsche Mediziner an der Entrechtung der jüdischen Kollegen mitgewirkt. Dazu gehöre auch die Beteiligung von NS-Ärzten an Verhaftungen und Gewaltexzessen gegen Juden und Kommunisten, ebenso wie das geräuschlose Wirken der Bürokratie der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschland und der Reichsärztekammer, betonte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Dr. Andreas Gassen bei der Einweihung eines Gedenkteins für die ermordeten jüdischen Ärzte im vergangenen Jahr zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht. All dieses moralische Fehlverhalten war nicht Gegenstand des Nürnberger Ärzteprozesses, ebenso wie die Tatsache, dass zahlreiche Ärzte bei der Übernahme ehemals jüdischer Praxen von der Vernichtung der Konkurrenz profitiert hatten. Nicht verhandelt wurden auch alle Verbrechen, die vor Kriegsbeginn begangen wurde, wie die Zwangssterilisation hundertausender Menschen mit Behinderungen. Auch der willkürliche Entzug der Kassenzulassung für jüdische Ärzte ab 1933 im Rahmen der Nürnberger Rassegesetze und die Aberkennung ihrer Approbation ab 1938 standen nicht zur Debatte. Nicht verurteilt wurden die hunderten Helfer des ärztlichen Völkermordes, soweit sie nicht in wenigen regionalen Prozesse im Osten (Dresden, Schwerin) bereits weitgehend rechtsstaatlich zu Todes- oder langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Tatsächlich wurde in Westdeutschland nach den Nürnberger Prozessen kein einziger Arzt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der NS-Zeit verurteilt.
Bereits 1938 hatten sich 30.000 Ärzte dem 1929 gegründeten Nationalsozialistischem deutschen Ärztebund angeschlossen. Deren Mitglieder waren auf das faschistische Verständnis von Volksgesundheit, Rassereinheit und Erbkrankheit eingeschworen. Befördert wurde dieser Prozess durch das elitäre Bewusstsein und die weitgehend konservative Einstellung dieser Berufsgruppe, die später überdurchschnittlich in NSdAP und SS vertreten war. Begünstigt wurde dieser Prozess auch durch die Situation der ambulanten Versorgung in der Weimarer Republik. Auf Grund eines Überangebotes von Ärzten nach einer Ausbildungswelle zu Beginn der 20er Jahre wurden Niederlassungsbeschränkungen eingeführt, so dass ca. zehn Prozent der Ärzte arbeitslos waren oder sich anderweitig verdingen mussten. Diese ärztliche Reserve war besonders anfällig für die NS-Avancen, zumal mit Beginn der Naziherrschaft die in der Wirtschaftskrise rückläufigen Ärzteeinkommen wieder anstiegen und den Arztberuf erstmals zum attraktivsten Beruf beförderten.
Neben der symbolhaften Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher unter der deutschen Ärzteschaft hatte der Nürnberger Ärzteprozess auch zu einem Umdenken im ärztlichen Handeln geführt – weg von einer kollektiven und hin zu einer individuellen Ethik. Im Nürnberger Kodex wurde der Rahmen für zukünftige medizinische und psychologische Menschenversuche festgelegt, der bis heute gilt. Ein Kernelement medizinischer Versuche ist dabei die Freiwilligkeit der Patienten.
Die deutsche Ärzteschaft hat sich lange gegen die Aufarbeitung der Verstrickung ihrer Berufsgruppe mit dem NS-Regime gewährt. Im Nürnberger Ärzteprozess fanden sich aus der Ärzteschaft keine prominenten Ärzte zur Prozessbeobachtung bereit. Diese Aufgabe übernahm schließlich der von den Nazis zweimal verhaftete Alexander Mitscherlich. Die erste Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses erschien 1949 in einer Auflage von 10.000 Exemplaren und wurde ausschließlich an Ärzte versandt. Erst 1960 erschien eine allgemein zugängliche Auflage im Fischer-Verlag. Die vollständige Dokumentation des Prozesses wurde schließlich 1999 veröffentlicht und bildete die Grundlage für die Publikation „Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzte-Prozess und seine Folgen“. Die Bundesärztekammer weigerte sich, die Edition finanziell zu unterstützen, so dass das Buch erst mit Hilfe der Einzelspenden von 8.000 Ärzten erschien. Die Ärzteschaft hat sich erst spät – fast zu spät – mit ihrer Verstrickung mit den NS-Verbrechen auseinandergesetzt, schreibt die Ärztezeitung Ende 2018. Es fehlte der Mut, die Täter tatsächlich mit ihren Verbrechen zu konfrontieren, kommentiert der Präsident des Zentralrates der Juden Dr. Josef Schuster dieses Defizit. Die Vorsitzende der Vertretung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Petra Reis-Berkowicz, forderte 2018 auf einer Gedenkfeier zur Reichspogromnacht in Berlin die aktive Beschäftigung mit der NS-Geschichte und auch mit der Tatsache, dass die nichtjüdische Ärzteschaft während des NS-Regimes schwere Schuld auf sich geladen habe. Die begonnene wissenschaftliche Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Ärzteschaft werde fortgesetzt.