Winterjagd
18. Juni 2017
Astrid Schult, Filmfest, Michael Degen, Winterjagd
Einen Konflikt über drei Generationen hinweg zur Nazivergangenheit hat ein Psychothriller „Winterjagd“ der ZDF-Nachwuchsredaktion „Das kleine Fernsehspiel“ zum Gegenstand. Er wurde mit großem Interesse Anfang Mai auf dem Schweriner Filmfest gezeigt und wird voraussichtlich im Herbst 2017 im ZDF zu sehen sein. Nach dem Drehbuch von Daniel Blickermann und Astrid Schult führte die Autorin Astrid Schult selbst Regie, die bereits durch ihren engagierten Film „Colonia Dignidad“ über einen chilenischen Ort des Schreckens bekannt wurde. Der Film kommt mit vier Schauspielern aus, darunter Carolyn Genskow sowie Michael und Elisabeth Degen. Die 25-jährige Lena (Carolyn Genskow) verschafft sich Zutritt zu dem einsam gelegenen Haus des über 90-jährigen Unternehmers Anselm Rossberg (Michael Degen). Rossberg ist ein angesehener Unternehmer der Schwerindustrie, die sich nach dem Krieg nicht nur seiner Auschwitztäterschaft entledigen konnte, sondern auch als Industrieller in Spitzengremien Karriere machen konnte. Anselms Tochter (Elisabeth Degen) leugnet nach dem Eindringen von Lena in das einsame Schloss des 90-Jährigen die Anwesenheit ihres Vaters, dessen Auschwitz-Vergangenheit gerade durch die Medien geht, und versucht, die junge Frau abzuwimmeln. In typischer Weise wurde der 90-Jährige gerade in einem Prozess von jeglicher Schuld freigesprochen. Das ist der Grund, warum Lena, die Enkelin einer Auschwitzüberlebenden, Rossberg zur Rechenschaft ziehen will. Als Lena dann Rossberg im Haus findet, mit einer Waffe bedroht und eine schreckliche Anklage erhebt, stehen alle drei vor einer schwierigen moralischen Entscheidung. Denn im erzwungenen Gespräch mit dem Auschwitztäter zeigt sich nicht nur, dass sich dieser keiner Schuld bewusst ist und jegliche Verantwortung ablehnt, sondern das sich das Leid der Opfer über die nachfolgenden Generationen fortsetzt. Während Lenas Großmutter über dem Freispruch des Täters Rossberg verbittert stirbt hat sich deren Sohn in der Folge der KZ-Erlebnisse seiner Mutter bereits vor Jahren das Leben genommen. Für den Zuschauer stellt sich die Frage, ob die Enkelin nach ihren Schießübungen im Wald Rache nehmen will, die Wahrheit erfahren möchte oder ein Schuldgeständnis des Täters erzwingen will. Diese Konstellation erinnert sehr an Jurek Beckers „Bronsteins Kinder“, der als Kind die KZ Ravensbrück und Sachsenhausen überlebt hatte und im Buch selbst Hand an die Täter anlegt. Der Regisseurin gelingt es überzeugend, die Spannung zwischen den Akteuren zu erhalten und die Motive der Beteiligten schrittweise herauszuarbeiten. Lange bleibt im Dunkeln, ob Anselm Rossberg tatsächlich Täter ist, ob Anselms Tochter ihren Vater im Wissen um dessen Verbrechen schützt oder selbst von dessen Unschuld überzeugt ist, ob Lena gegen die ungerechte Nazi-Rehabilitation revoltiert oder noch mehr dahinter steckt. Davon kann sich der Zuschauer im Film persönlich ein Bild machen. Besonders beindruckend ist, wie das Vater-Tochter-Verhältnis im Film durch Michael Degen und dessen Tochter Elisabeth Degen dargestellt werden. Die grausame persönliche Verstrickung dreier Generationen in Schuld und Last, die bis heute fortwirkt, macht den Film besonders wertvoll. Die Lebenssituation und Abhängigkeitsverhältnisse dreier Genrationen von Tätern und Opfern werden idealtypisch von einer jungen Nachwuchsregisseurin zu einer spannenden Geschichte verwoben. Das ist ein interessanter Ansatz, um mit einer persönlichen Erzählung junge Leute zu den Verbrechen des deutschen Faschismus anzusprechen, die von diesem Geschehen mittlerweile Generationen entfernt sind. Der Film ist ein gelungenes künstlerisches Werk, um die moralischen Dimensionen von Schuld und Verantwortung über die faschistischen Verbrechen und den notwendigen Umgang damit auf moderne Weise zu vermitteln. Er hat für das Schweriner Filmfest aber noch eine besondere Bedeutung, denn parallel zur Filmpräsentation stockt in Neubrandenburg seit Monaten ein Prozess gegen einen Auschwitz-Täter, der wie im Film angeblich nur Schreibtischtäter war. Es bleibt zu hoffen, dass die Wende in der juristischen Bewertung der persönlichen Schuld von Nazi-Tätern, wie sie nach dem Demjanjuk-Prozess eingesetzt hat, auch in Neubrandenburg ankommt.