Flucht aus Deportationszügen der Nazis
31. Mai 2015
Mehr als 750 Menschen flohen aus den Deportationszügen der Nazis, die Juden aus Belgien, Niederlande und Frankreich nach Auschwitz brachten.
Warum ließen sich die Juden widerstandslos zur Schlachtbank führen? Hinter dieser Frage steckt selbst ein Stück Antisemitismus, mit dem Juden nicht nur von den Nazis gern als falsch, verschlagen und feige gekennzeichnet werden. Dass das tatsächliche Verhalten der verfolgten Juden in der NS-Zeit lange nicht an die Öffentlichkeit kam, hat auch etwas mit verstecktem Antisemitismus zu tun. Tatsächlich emigrierte die Hälfte der deutschen Juden, als die Nazis ihre Rassegesetze und rassistischen Verordnungen umsetzten. In anderen europäischen Ländern schafften das deutlich weniger Menschen, da ihnen weniger Zeit zur Flucht blieb. Tausende Juden kämpften in den Reihen der Alliierten gegen die Nazis, in Partisanenverbänden und im Widerstand, wie die jüdische Widerstandsgruppe in Berlin um Herbert Baum. Selbst in den Vernichtungslagern Auschwitz und Sobibór fanden Aufstände gegen die völlig überlegenen Wacheinheiten statt.
Ein wenig bekanntes Kapitel des Widerstandes der Juden in Frankreich, Belgien und den Niederlande schreibt die Sozialwissenschaftlerin Tanja von Fransecky am Zentrum für Antisemitismusforschung der technischen Universität Berlin in ihrer veröffentlichen Promotion über „Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden“. Die Autorin arbeitet an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin und erhielt für ihre Arbeit 2013 den Herbert-Steiner-Förderpreis.
Die Sozialwissenschaftlerin lernte Jahre zuvor den jüdischen Überlebenden Simon Gronowski kennen. Zusammen mit seiner Mutter war der Elfjährige 1943 aus dem 20. Deportationszug geflohen, der ihn vom Sammellager Mechelen in Belgien nach Auschwitz bringen sollte. Den Absprung vom Zug hatte er mit anderen Kindern in Mechelen geübt, indem sie im Lager von den dreistöckigen Hochbetten sprangen. Als der 20. Deportationszug die deutsche Grenze erreichte, waren insgesamt 232 Gefangene aus dem Wagen geflohen. Drei junge Männer hielten am 19. April diesen Deportationszug kurzeitig auf und befreiten 17 Menschen. Ausgerüstet mit einer Pistole und einer roten Sturmleuchte stoppten die Widerstandskämpfer Youra Livschitz, Jean Franklemon und Robert Maistriau den Todeszug, bis die überraschten Wachmannschaften das Feuer eröffneten. Andere Häftlinge hatten von dem Vorhaben gehört und Werkzeuge in den Transportwaggons versteckt. So konnten weitere 200 Häftlinge auf der Fahrt fliehen. Die Flüchtigen wurden verfolgt, 26 Häftlinge erschossen und 87 erneut verhaftet. 119 Deportierten gelang es zu entkommen, nicht zuletzt durch die Hilfe der belgischen Bevölkerung. Immerhin 40 Prozent der 65.000 Juden, die sich beim Überfall der Nazis auf Belgien im Lande befanden, wurden in belgischen Familien, auf Bauernhöfen und in Klöstern versteckt. Zahlreiche der verfolgten Juden waren selbst vorher in jüdischen Organisationen aktiv oder fanden den Weg in den Widerstand. Schon nach dem zweiten Deportationszug nach Auschwitz meldeten sich die in Belgien lebenden Juden nicht mehr bei den Sammelstellen und versuchten, unterzutauchen. Insgesamt konnte Tanja von Fransecky 577 Fluchten aus Deportationszügen in Belgien belegen, 155 in Frankreich und 29 in den Niederlanden.
Über die Fluchten, die aus fast allen Todeszügen erfolgten, war bisher wenig bekannt. Dafür gibt es gute Gründe. Für die Häftlinge waren die Transporte mit 50 bis 80 Personen in einem Wagon, mit wenig Wasser und Nahrungsmitteln und ohne sanitäre Anlagen, mit Gestank, Krankheit und Tod so traumatisch, dass die Überlebenden die schreckliche Fahrt in ihren Erinnerungen oft verdrängten. Außerdem standen die Fluchtwilligen vor einem moralischen Dilemma. Die Nazis hatten den Häftlingen angedroht, alle Personen des Waggons zu erschießen, wenn einzelnen Häftlinge fliehen sollte. Die Häftlinge wussten nicht, dass dies nur eine Drohung war. Die Häftlinge standen unter dem Druck, andere Häftlinge oder gar Verwandte in den Todeszügen zurücklassen zu müssen. In den Waggons spielten sich tragische Szenen ab, als einzelne Häftlinge oder Gruppen mit den Fluchtvorbereitungen mit Hilfe von eingeschleusten Werkzeugen begannen. In den Waggons brach nicht selten Panik aus. Die Fluchtgegner und Waggonältesten mussten gelegentlich überwältigt werden. Zahlreiche Häftlinge wagten die Flucht nicht oder waren zu alt oder zu schwach dafür. Außerdem waren mit der Flucht zahlreiche Gefahren verbunden, da die Flüchtenden nicht selten beim Absprung verletzt oder getötet wurden und die Wachmannschaften oder bewaffnete Bahnposten die Flüchtenden verfolgten, erschossen oder zurückführten. Tanja von Fransecky hat die situationsübergreifenden strukturellen Faktoren untersucht, die Fluchten ermöglichten oder behinderten. Sie hat damit ein bisher wenig bekanntes Kapitel der Judenverfolgung durch die Nazis in Europa offen gelegt, das die Flucht zahlreicher verfolgter Juden beschreibt, die die Naziverfolgung nicht hinnahmen und mit ihrer Flucht selbst Widerstand leisteten. Axel Holz
Literaturhinweis:
Tanja von Fransecky, Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, Metropol-Verlag, Berlin 2014, 398 Seiten