Wahlen mit Signalwirkung
17. Juli 2024
Anfang Juli 2024 fanden Wahlen zu den nationalen Parlamenten in Großbritannien und Frankreich statt. Im Falle Großbritanniens erlebten die konservativen Tories eine krachende Niederlage, während Labour zum ersten Mal seit über 10 Jahren mit einer absoluten Mehrheit regieren kann. In Frankreich wurde das Bündnis Nouveau Front Populaire (NFP) stärkste Kraft in Parlament, auch wenn es die absolute Mehrheit verpasste. Beide Wahlen haben durchaus Signalwirkung, wenngleich die Resultate auch dem Mehrheitswahlsystem in beiden Ländern geschuldet sind.
Das britische Mehrheitswahlrecht drückt nur eingeschränkt die tatsächliche politische Stimmung im Land aus, wie ein Vergleich der prozentualen Wahlergebnisse von 2024 zeigt. Labour gewinnt 1,4% und erreicht mit 33,8% allein 411 Mandate, während die Tories fast 20% verlieren, auf 23,7% abstürzen und nur noch über 120 Mandate verfügen. Diese Stimmen der Tories gehen in großer Zahl zu Nigel Farage mit seiner „Reform UK“, die 12,3% gewinnt und mit 14,3% drittstärkste Kraft jedoch nur fünf Mandaten erhält. Die Liberalen gewinnen 0,7% und erreichen bei gut 12% 71 Mandate, während sich die Grünen bei 6,8% über vier Mandate freuen konnten. Abgestürzt ist die schottische Unabhängigkeitspartei, deren 2,4% nur zu neun Mandaten reichten. Sinn Fein und die walisische Partei konnten ihre Positionen jedoch halten.
Auch in Frankreich verschiebt das Mehrheitswahlrecht die Stimmungslage im Land. Nachdem es im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen noch nach einem „Durchmarsch“ des RN – in einer Koalition mit der Zemmour-Partei – aussah (siehe Newsletter 2024-27), ergab sich durch die gesellschaftliche Mobilisierung und teilweise eingehaltenen Absprachen zwischen der Macron Partei „Ensemble“ mit dem NFP tatsächlich eine neue Konstellation. Wichtig war, dass auch bei diesem Wahlgang die Wahlbeteiligung hoch lag. NFP erreichte als stärkste Kraft 182 Mandate. Das ist zwar weit von der absoluten Mehrheit (289 Sitze) entfernt, ist aber als politisches Gewicht nicht zu übersehen. Zusätzlich wurden etwa 10 unabhängige linke Kandidat*innen gewählt, so dass knapp 200 Stimmen für die Gruppe der NFP gerechnet werden können.
Die Macron-Partei erreichte nach dem Desaster der ersten Wahlrunde (21% Wählerstimmen) noch den zweiten Platz mit 168 Mandaten. Ob jedoch die 45 Mandate der konservativen Les Républicans als Koalitionspartner im Parlament angesehen werden können, ist fraglich. Deren Spitzenkräfte orientieren sich eher auf den RN, der mit 143 Mandaten deutlich hinter seinen eigenen Erwartungen und den politischen Prognosen zurückblieb.
Wenn man jedoch die absoluten Zahlen dieser Wahl betrachtet, dann wird deutlich, dass es keinen Grund für Antifaschisten geben kann, sich beruhigt zurückzulehnen. Auch im zweiten Wahlgang blieb der RN in absoluten Zahlen die stärkste politische Kraft.
Die Haltung von Präsident Macron, mit der Ablehnung des Rücktritts von Premierminister Attal „auf Zeit zu spielen“, kann keine erfolgreiche Strategie gegen den Vormarsch der extremen Rechten sein. Marine Le Pen hat sich bereits am Wahlabend in Stellung gebracht für die kommenden Präsidentschaftswahl, bei der sie hofft, nicht nur erneut in die Stichwahl zu kommen, sondern diesmal tatsächlich an die Spitze der Macht.
Die politischen Konsequenzen in beiden Ländern sind ähnlich. Die Menschen, die sich an der Wahl beteiligt haben, haben große Erwartungen in eine politische Neuausrichtung. Die zentrale Losung in Großbritannien lautete „Change“, selbst wenn Labour nur 1,4% gewinnen konnte. Doch jeder, der Labour gewählt hat, erwartet ein deutlich verbessertes Gesundheitswesen, Fortschritte in der öffentlichen Daseinsvorsorge und eine Rücknahme der rassistischen Ausweisungspolitik der Tories. Die Tatsache, dass Jeremy Corbin als Unabhängiger direkt in das Unterhaus gewählt wurde, zeigt, dass es in der Gesellschaft Stimmungen für einen progressiven Aufbruch gibt. Dafür müsste Labour jedoch ihre eigene Programmatik schärfen und Einschnitte in die ökonomischen Machtverhältnisse in Großbritannien vornehmen, weil anderenfalls die finanziellen Mittel für die staatlichen Aufgaben nicht vorhanden wären. Das politische Problem des Rassismus bleibt auf der Tagesordnung. Zwar haben die Tories ihre Mandate verloren, aber zu Gunsten von Nigel Farage, der nach der Brexit-Propaganda nun die rassistische Karte gegen die Migranten spielt. Selbst wenn Farage nur fünf Mandate erreichte, sein politischer Einfluss ist ungefähr so stark wie der der AfD in Deutschland.
Auch in Frankreich wird es darauf ankommen, wie stabil sich das Bündnis der NFP innerhalb des Parlamentes erweist. Erfolgreich war das Bündnis in der Abwehr des Vormarsches der extremen Rechten des RN. Nun geht es darum, Forderungen der Menschen, z.B. nach Rücknahme der Rentenregelung und anderer sozialer Grausamkeiten, durchzusetzen. Dies kann nur gelingen, wenn neben dem Wahlerfolg eine gesellschaftliche Mobilisierung den Druck auf das Parlament verstärkt. Die antifaschistischen Kräfte stehen also weiterhin vor großen Aufgaben.