Kollektive Unschuld
13. Juni 2020
Harald Welzer, Samuel Salzborn, Shoah
In einem übersichtlichen Essay thematisiert der 1977 in Hannover geborene Politikwissenschaftler Samuel Salzborn die kollektive Unschuld der Deutschen, die sich in der Abwehr der Shoah im Erinnern zeige. Er zeigt mit seinem Buch, dass im bundesdeutschen Selbstbild die Schuld- und Erinnerungsabwehr, die Selbststilisierung als Opfer und die antisemitische Projektion schon immer und bis heute hartnäckig praktiziert wird. Salzmann verleiht dem Thema dabei eine Schärfe, die es in der deutschen Diskussion so noch nicht gab. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, der Abschied vom eigenen Opfermythos und die Auseinandersetzung mit der antisemitischen Täterschaft finde in den Familiengeschichten der Bundesrepublik faktisch nicht statt. Auch die Tatsache, dass zahlreiche Tätergeschichten mittlerweile durch kritische Familienangehörige in den letzten Jahrzehnten auf den Buchmarkt aufgetaucht sind, ändert nichts an dieser Tendenz. Salzmann spricht sogar von einer linksliberalen Elite, die die NS-Aufarbeitung irrtümlich in der Masse der Bevölkerung angekommen glaubt, die es so aber nicht gebe. Die bundesdeutsche Erfolgsgeschichte von der Aufarbeitung des Holocaust sei kritisch zu hinterfragen. Tatsächlich sei in allen drei Nachfolgestaaten des NS-Regime eine Selbstinfantilisierung und Verantwortungsabwehr erfolgt. Geschichtsvergessenheit habe uns durchgehend begleitet – von der Inszenierung der Deutschen als Opfer, der anhaltenden Sehnsucht nach Unschuld bis zur Geschichtsrelativierung. In den frühen Debatten und Straffreiheitsregelungen, bei der Thematisierung von Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg, durch Ausstellungsprojekte der Staufer- und Preußenausstellung, in der Diskussion um das „Zentrum für Flucht und Vertreibung“ oder durch die massive Ungleichgewichtung zu Gunsten von Erinnerungsorten der DDR-Geschichte gegenüber dem NS-Gedenken komme dies systematisch zum Ausdruck. Die klassische Täter-Opfer-Verdrehung sei bis heute ein fester Bestandteil der familiären NS-Aufarbeitung. Denn tatsächlich soll es nach wissenschaftlichen Schätzungen nur 200.000 Menschen gegeben haben, die Naziopfern geholfen haben. Nach der Memo-Studie des Instituts für interdisziplinäre Konfliktforschung der Universität Bielefeld dichten aber 28,7 Prozent der Deutschen ihren Vorfahren eine Helfer-Vita an und 68,9 Prozent der Befragten glauben, dass ihre Angehörigen nicht unter den Tätern zu finden sind. 35,9 Prozent der Befragten glauben sogar, ihre Angehörigen seien selbst zu den Opfern zu zählen. Die mangelhafte Schuldauseinandersetzung wird auch durch eine kulturelle NS-Aufarbeitung gestützt, die trotz Sternstunden wie „Der Stellvertreter“, „Shoah“, “Schindlers Liste“ oder „Das Leben ist schön“ durch kontraproduktive Aufarbeitungsszenarien geprägt war. Salzborn erinnert an die Heimatfilme der 50er Jahre, in denen das NS-Regime entdämonisiert und entpolitisiert werde. Bis heute werden die Nazi-Täter häufig zu menschlich-liebenswerten Gestalten entstellt, um sich mit ihnen identifizieren zu können und die familiäre Schuldabwehr bestätigt zu finden. Trotz zahlreicher Fortschritte bei der massenhaften Konfrontation der Bevölkerung mit der Shoah in den siebziger Jahren und der Aufarbeitung der Opfergruppen und einer neuen Gedenkkultur ab den 90er Jahren erfolgt künstlerisch eher ein Rückfall in alte Muster der Selbstverherrlichung, Schuldumkehr, Entkontextualisierung und Geschichtsrelativierung. Typische Beispiele dafür seinen Mainstream-Produktionen wie „Die Flucht“ „Der Untergang“, „Die Gustloff“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ – ein Rückfall in alte Selbstentschuldungsmechanismen. Jeder Deutsche wisse um die Vielzahl der Täterinnen und Täter. Diese blieben aber abstrakt. Es werde nicht erkannt, dass vielfach die eigenen Eltern und Großeltern die Täter waren. Bereits 2002 hatte Harald Welzer zusammen mit weiteren Autoren in der familienbiografischen Studie „Opa war kein Nazi“ gezeigt, wie zahlreiche Deutsche ihre Täterschaft in Opfer oder Widerstandskämpfer umdefinieren. Bis heute sehen die Mehrheit der deutschen Vertriebenenfamilien und die künstlerischen und medialen Darstellungen dazu vor allem die Opferrolle der Betroffenen, weniger deren Mitwirkung an der völkischen Germanisierungspolitik als Ursache der späteren völkerrechtskonformen Vertreibung. Bis heute ist auch die Tätervorstellung der Deutschen sehr stark auf Abwehr und Eingrenzung ausgerichtet. Die massenhafte Abschiebung der eigenen Verantwortung auf Hitler, die NS-Elite, die Kriegsverbrecher, SS, Gestapo oder NSDAP-Mitglieder hat die eigene Rolle der Vorfahren im NS-Staat systematisch aus dem Fokus genommen. Salzmann stellt Fragen nach der individuellen Schuld der Menschen in der NS-Diktatur, die so noch nicht öffentlich gestellt wurden. Es geht dabei um Erinnerungsverweigerung einer Schuld in vielfältigem Sinne der betroffenen Erlebnisgeneration: die Schuld, den offensichtlichen Lügen der Nazis geglaubt zu haben, die Schuld bei Juden nicht eingekauft zu haben oder die Straßenseite gewechselt zu haben, um den Nachbarn nicht zu begegnen, die Schuld Freundschaften beendet zu haben, Ehepartner verlassen und Menschen denunziert zu haben. Die Aufzählung ließe sich fortführen. Salzmann hat eine Debatte entfacht, die analytisch tief geht und niemanden schont. Er verweist die Mehrheit der Deutschen auf ihre individuelle Schuld während des NS-Regimes und zugleich uns auf unserer Verantwortung für heutige Entscheidungen.
Samuel Salzborn: „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“
Berlin/Leipzig, Hentrich & Hentrich Verlag, 2020
136 Seiten, 15 Euro