Untergetaucht

geschrieben von Axel Holz

21. Juli 2017

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Eine junge Frau aus einer jüdischen Familie überlebt im Nazi-Berlin und erlebt Verrat und unterschiedlich motivierte Hilfe

Kurz vor ihrem Tod erzählt Marie Jalowitcz Simon ihrem Sohn ihre Lebensgeschichte auf 77 Tonbänder. Die Professorin für antike Literatur und Kulturgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität hatte nach der Befreiung Berlins, die sie sehnsüchtig erwartete, nie über ihre Zeit als Untergetauchte und rassisch Verfolgte gesprochen. Sie war einer von über 5.000 Menschen, die in Berlin vor der Deportation flohen, von den Nazis auf Grund ihrer jüdischen Herkunft in die Illegalität getrieben wurde und von denen nur etwa 1.600 Menschen überlebten.

Marie Jalowicz Simon berichtet darüber, was es bedeutet, sich Tag für Tag durch das faschistische Berlin  durchzuschlagen. Dazu braucht die junge Frau, deren Eltern bereits gestorben sind,  sichere Verstecke, Papiere, Lebensmittel und Menschen, die ihr helfen. Mehr als einhundert Menschen tragen dazu bei, an neunzehn verschiedenen Orten vor der Verfolgung durch die Nazis Unterschlupf zu finden. Ihr Überlebenswillen, ihr Mut und ihre Schlagfertigkeit helfen der Verfolgten zu überleben. Vielfach kann sie einer Verhaftung nur knapp entkommen – durch Zufall und einen siebten Sinn für drohende Gefahr. So flieht sie nach monatelanger Zwangsarbeit bei Siemens 1942  in letzter Minute im Unterrock aus ihrer Wohnung an den Gestapo-Häschern vorbei. Ein wildfremder Arbeiter hilft ihr an der Ecke mit einer Windjacke aus. Sie erzählt im Buch von Leiden und Langeweile, von ständiger Angst, von sexuellen Übergriffen auf die Schutzlose und auch über die erstaunliche Hilfsbereitschaft vieler Menschen. So nutzt sie die Identität und Lebensmittekarte von Johanna Koch, die ihr hilft und sie doch armselig, abhängig und leidend sehen möchte. Marie Jalowitcz spielt die alleinstehende Schwester oder Haushalthilfe und wird hier geliebt, dort geduldet und woanders als Halbjüdin beschimpft. Die Motive der Helfer sind sehr unterschiedlich. Nicht wenige nutzen ihre schwierige Lage aus. Ein Rechtsanwalt, der ihr zu Papieren verhilft, verlangt Sex von ihr, ein anderer Helfer bedrängt sie. Aber sie erfährt auch Solidarität und Zuwendung. Sie versucht, mit einem bulgarischen Freund in die Türkei zu fliehen und erhält falsche Papiere vom deutschen Dienststellenleiter für die Fremdarbeiter in Deutschland  Hans Goll in Sofia, um nach dem Scheitern der Flucht unerkannt zurückzukehren. Sie erhält die Gnadenpension für ihren verstorbene Vater durch den Kammergerichtspräsidenten  Heinrich Hölscher aus Hilfsbereitschaft zugebilligt, lebt mit der Artistin Camilla Fiochi zusammen und in der Beziehung mit einem holländischen Zwangsarbeiter.  Sie wird von der Kommunistin Trude Neuke aufgenommen, die wochenlang nach neuen Fluchtorten sucht und findet Unterschlupf bei der kommunistischen Portiersfrau Krause.

Sie trifft viele, die sie nicht denunzieren und andere, die ihr helfen, aber weder Nazigegner noch Antifaschisten sind. Sie trifft auf ihrer Flucht auf eine zwiespältige Mischung aus Gleichgültigkeit und gelegentlicher Hilfsbereitschaft, aus humanem Verhalten und rassistischen Einstellungen. Das zeigt auch, dass unser Bild von dieser Zeit oft zu holzschnittartig ist und die Realität in Wirklichkeit komplizierter ist. Als kluge und gebildete Frau wird die Protagonistin gezwungen, um des Überleben Willens zu einer routinierten Lügnerin und Taktikerin zu werden. Sie checkt die Personen und Situationen in ihrer Umgebung gewissenhaft, geht Abschieden aus dem Weg und meidet Menschaufläufe. Ihr Sohn stellt fest, dass sie aus dieser Rolle noch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht herauskommt und von mehreren Zusammenbrüchen heimgesucht wird.

In einem Brief an einen Schulfreund gibt Marie Jalowitcz 1946 eine Antwort auf die Frage, wie es eigentlich zur Judenverfolgung kommen konnte.  Das, was passiert ist, sei immer und überall möglich, wenn man an die niedrigsten Instinkte des Pöbels appelliere, heißt es in dem Brief. Die biographische Verarbeitung der Erlebnisse von Marie Jalowicz ist spannend und zugleich authentisch. Sie macht die jahrelange Flucht der in Berlin Untergetauchten für den Leser ein wenig begreiflich. Die Autorin schildert die Kunst zu Überleben, mit der auch heute tausende Flüchtlinge immer wieder von neuem konfrontiert werden.

Das Buch „Untergetaucht“ wird mit einem Nachwort des Sohnes von Marie Jalowicz abgeschlossen, dem Historiker und Direktor der Neuen Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Darin würdigt der Philosoph Gerd Irrlitz in seinem Nachruf den kritischen Blick von Marie Jalowitzc, der ihr auch in der Nazi-Zeit zu überleben half. Für sie selbst war ihr Überleben Zufall. 1993 schrieb sie in einem Vortrag: „Wäre das beherzte Überleben Einzelner Segen oder Fluch, wenn es auf Vorhersehung und Lenkung beruhte, angesichts der Ermordung von einer Million Kindern?“