Kriegsverbrechern auf der Spur

geschrieben von Axel Holz

19. Oktober 2017

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„Schuld, die nicht vergeht“ – unter diesem Titel erschien Anfang Oktober 2017 ein Buch des Staatsanwalts und langjährigen Leiters der zentralen Stelle der Landesjustizanstalten zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Kurt Schrimm. Von 2000 bis 2015 war der 68-jährige Jurist Leiter dieser Untersuchungseinrichtung zur Aufklärung von Nazi-Kriegsverbrechen und hatte zuvor bereits als Staatsanwalt in Stuttgart bei der Verfolgung von Nazi-Tätern Erfahrungen gesammelt. Die Verurteilung von Josef Schwamberger, Alois Götze und John Demjanjuk waren die größten Erfolge. Über 48 Seiten beschreibt er auch seine größten Misserfolge, bei denen Naziverbrecher aus unterschiedlichsten rechtlichen Gründen nicht verurteilt wurden. Das Buch ist ein spannendes Stück Zeitgeschichte, ein Plädoyer gegen das Vergessen und gegen jede Schlussstrichmentalität gegenüber den Nazi-Verbrechen. Der Autor hat sich über dreißig Jahren sein halbes Leben der Aufgabe gewidmet, die Nazi-Täter ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, sie aufzuspüren und zur Verantwortung zu ziehen. Er recherchierte dafür weltweit in Archiven, sprach mit den meisten Zeugen auf verschiedenen Kontinenten persönlich und ging vor allem in Südamerika und Osteuropa Hinweisen nach, wohin sich zahlreiche Kriegsverbrecher abgesetzt hatten oder versteckt hielten.

In seiner Amtszeit hat Kurt Schrimm auch die kleinen Rädchen in den Fokus genommen, ohne die das Mordgetriebe nicht funktioniert hätte. Denn nach dem Nürnberger Prozess und den Nachfolgeprozessen wurde die große Masse der NS-Täter  von der Justiz nicht zur Rechenschaft gezogen, floh aus der Haft, wurde begnadigt, konnte untertauchen oder lebte unauffällig weiter. Bei der Aufklärung von Organisationsverbrechen hat der Jurist Neuland betreten und musste sich dabei Kenntnisse über Befehlswege und Organisationsstrukturen, über politische und soziologische Hintergründe verschaffen. Keiner der Täter, die er angeklagt hatte, hat seine Taten je bereut. Manch smart wirkenden Mitbürger brachte Kurt Schrimm aber mit dessen Kriegsverbrechen heftig in Bedrängnis. Erstmals wurde im Demjanjuk-Prozess 1998 das juristische Diktum durchbrochen, dass auch für Nazi-Verbrechen die persönliche Mordbeteiligung in Vernichtungslagern nachgewiesen werden musste. So existierte zwar eine Liste von 6.000 KZ-Aufsehern, die den Betrieb des  Vernichtungslager Auschwitz organisierten, aber kaum einer von ihnen wurde dafür zur Verantwortung gezogen. Allen Beteiligten musste aber klar sein, dass der alleinige Sinn dieser Lager die Vernichtung von Menschen war. Mit dieser juristischen Position wurden nun Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit neu bewertet. Alle anderen grausamen Taten der SS-Leute, Wehrmachtsangehörigen und Hilfstruppen, einschließlich des Totschlags, waren ohnehin seit 1965 juristisch verjährt. Für seine Arbeit habe Schrimm die Begegnung mit einer 72-Jährigen Jüdin in New York geprägt, deren elf Geschwister und Eltern in Auschwitz ermordet wurden. Sie habe vierzig Jahre auf den Tag gewartet, dass ein Vertreter des deutschen Staates sich dafür interessiert, was in jenen Tagen geschah.

Die juristischen Hindernisse, mit denen der Autor die Nichtverurteilung vieler gefasster Täter begründet, sind der individuelle Mordnachweis, das Verbot der Doppelbestrafung nach einer bereits erfolgten Verurteilung durch die Alliierten durch einen Überleitungsvertrag, die Beschränkung der Untersuchung auf die zuständigen Staatsanwaltschaften ausschließlich am Wohn- oder Tatort, die Nichtverfolgung im Ausland, die Nichtauslieferung deutscher Kriegsverbrecher an Gerichte im Ausland, die Verjährung von Verbrechen, die Beurteilung der Naziverbrechen nach dem Maßstab der Nichteinhaltung vorhandener Nazigesetze usw. Nur wenige Rechtshindernisse zur Verfolgung von Kriegsverbrechern wurden ausgeräumt, wie die Einführung der Nichtverjährung für Mord ab 1965 und die Gründung der zentralen Ermittlungsstelle der Länder zur Aufklärung von Kriegsverbrechen in Ludwigsburg, die nun zentral ermitteln aber nicht selbständig anklagen konnte. Schließlich wird auch die fehlende Zusammenarbeit ausländischer Staaten mit der BRD bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern genannt. Die Zusammenarbeit mit der polnischen Justiz sei diesbezüglich eine seltene Ausnahme. Die juristische Hilfestellung der DDR sei Anfang der 60er Jahre nicht angenommen worden und spätere Hilfegesuche an die DDR seien nicht beantwortet worden. Auch die Akten der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) über 34.270 Deutsche und weitere Verdächtige seien der deutschen Justiz nicht zugänglich gewesen.

Es stellt sich die Frage, wer politisch dafür verantwortlich ist, dass die vielen Rechtshindernisse zur Verfolgung von Kriegsverbrechern in der BRD nicht beseitigt wurden, um deren effektive Verfolgung zu ermöglichen. Über diese politische Verantwortlichkeit spricht der Autor nicht, auch nicht über die Verantwortung der Juristen, Staatsanwaltschaften und Experten, mit diesem Wissen die Öffentlichkeit, die Presse und die Politik zu konfrontieren. Kurt Schrimm bedauert, dass eine effektive und systematische Ermittlung gegen Kriegsverbrecher erst ab 1958 mit der Errichtung der Zentralstelle in Ludwigsburg möglich wurde. Eine Erklärung, warum dies erst so spät erfolgte, hat auch er nicht.

Nach jüngsten Forschungen, auf die der Autor verweist, wurden von deutschen Gerichten seit 1945 36.395 Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen gegen 172.294 Personen geführt, von denen 16.740 angeklagt und 6.656 verurteilt wurden. In der DDR gab es bis 1965 12.807 Verurteilungen von Nazi- und Kriegsverbrechern. Selbst in Österreich, dessen rechtsstaatliche Prozessführung kaum in Frage gestellt werden kann, wurden bis 1955 13.607 Personen wegen Kriegsverbrechens verurteilt, wie Schrimm recherchiert. Im Verhältnis zur Bevölkerung wurden damit in Österreich etwa 16 Mal so viele Kriegsverbrecher verurteilt wie in der BRD. Warum war das wohl so? Vielleicht , weil es in Österreich gegen innere Widerstände einen übergreifenden politischen Willen der demokratischen Kräften zur Verfolgung von Kriegsverbrechen gab.