Den Opfern verpflichtet

geschrieben von Axel Holz

9. April 2015

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Ulrich Rabe galt während des Nationalsozialismus in der Sprache der Nazis als „Halbjude“. Verschleppt aus seiner Heimat, durchlitt er wie Millionen Andere die Schrecken des Nazi-Terrors. In seiner Autobiografie erzählt er, wie er den Tag der Befreiung erlebte und wie diese Erlebnisse sein weiteres Leben prägten.

Bereits vor einigen Jahren erschien das Buch „Halbjude?“ von Ullrich Rabe, dem langjährigen Vorstandsmitglied der VVN-BdA in Mecklenburg-Vorpommern. Darin hatte der Autor seine lebenslange Beschäftigung mit der rassischen Stigmatisierung thematisiert, die ihm die Nazis aufgestempelt hatten. Nur durch eigene Initiative und Glück war Ullrich Rabe den Nazis zum Kriegsende in ein Kriegsgefangenenlager der Alliierten entkommen, wo er den Tag der Befreiung erlebte, als US-amerikanische und marokkanische Wach-Truppen mit Schüssen in die Luft den Sieg über das Nazi-Regime feierten. Als sogenannter Halb-Jude überlebte er die rassische Verfolgung – anders als sechzehn seiner ermordeten jüdischen Verwandten, wurde in der Organisation Todt dienstverpflichtet und musste im besetzten Frankreich schwere Aufräumarbeiten nach alliierten Luftangriffen durchführen. Anders als in seinem früheren Buch beschreibt er diesmal in seiner Autobiografie nicht nur seinen schwierigen Lebensweg aus einer jüdischen bürgerlichen Arzt-Familie durch die Ausgrenzungen und Bedrohungen der Nazi-Zeit in eine neue Gesellschaft, die ihm Bildung, berufliche Perspektiven und gesellschaftliche Anerkennung zukommen lies. Dieser Weg führte ihn vom Betriebsschlosser über den Ingenieur für Schweißtechnik zum Institutsleiter und Wissenschaftsattaché der DDR in Tokio bis zum Dozenten an der Hochschule für Seefahrt in Rostock. Ullrich Rabe hat sich auch an ein Tabuthema gewagt, das viele Opfer des Nazi-Regimes ihr Leben lang weiter begleitet hat. Wie gingen die Menschen, die unter der Nazi-Herrschaft ihre Mitbürger ausgrenzten oder dies stillschweigend in Kauf nahmen, nun mit ihm und seiner Familie um? Und wie gelang es ihm zusammen mit seiner Familie, mit den Traumatisierungen des Faschismus umzugehen, mit der erlebten Ausgrenzung, mit der politisch gewollten Entmündigung und Entrechtung? In seinem Buch beschreibt der Autor, wie ihm mit neun Jahren als nichtsahnenden Jungen von seinem Klassenkameraden das Stigma Jude aufgeprägt wird. Sein weiteres Leben und das seiner Familie werden nun durch die Rassegesetze und die Rassenhetze der Nazis bestimmt, so dass er sich schließlich das Abitur illegal erschleichen muss. Besonders hart trifft ihn die Isolation durch Klassenkameraden und die Ausgrenzung im Freundeskreis der Familie. Der Druck der Nazi-Ideologie auf die Bevölkerung wird immer spürbarer, aber auch die Erfahrung, wie persönliche Beziehungen Sympathie erhalten können und Schutz ermöglichen. Mit seiner Deportation durch die Organisation Todt erfährt er, wie er als Sklavenarbeiter in Frankreich nur noch als Nummer existiert, wie er Hunger und willkürlichen Erschießungen von Gefangenen in seinem Umfeld ausgesetzt wird. Erst nach einer abenteuerlichen Flucht in die Kriegsgefangenschaft beginnt er, sich wieder als Mensch zu fühlen, muss sich aber Nazi-Offizieren im Kriegsgefangenenlager wiedersetzen, die dort noch immer das Sagen haben. Illegal über die Sektorengrenze zurück bei seiner sächsischen Familie trifft er tatsächlich auf seine Eltern, die den Holocaust überlebt hatten und sich in den Neuaufbau des Landes stürzten. Erst dort erfährt er, wie viele seiner Verwandten dieses Glück nicht hatten, weil sie von den Nazis ermordet wurden. Keiner ahnte damals, dass die Rasseideologie der Nazis die Opfer noch lange nach ihrer Befreiung verfolgen würde und die Spur der zerstreuten Überlebenden seiner Familie bis nach Schweden führen sollte. Erst 2012 erfährt er, dass dort eine überlebende Cousine über mehrere Etappen gestrandet war, ihren verschollen geglaubten Vater wieder traf, aber wie ihr Vater die schrecklichen Erlebnisse der Nazi-Zeit nicht verarbeiten konnte. Bei beendeten ihr Leben vorzeitig. Für Ulrich Rabe war die Ablehnung des Rassebegriffes und jeglicher Diskriminierung eine wichtige Schlussfolgerung für sein Leben. Aber auch der Umgang mit der erlebten Nazi-Ausgrenzung beschäftigt ihn bis heute. Er stößt auf verschiedene Verarbeitungsstrategien. Er erlebt die Fortsetzung der Traumatisierung und die Verzweiflung der Opfer. Er beobachtet bei nicht wenigen Opfern den Beginn eines aktiven, neuen Lebens, das das Erlebte vergessen machen sollte. Er entscheidet sich aber neben vielen anderen für die bewusste Erinnerung und öffentliche Auseinandersetzung mit den Nazi-Verbrechen, ihren Ursachen und dem persönlichen Erleben des schlimmsten Kapitels der deutschen Geschichte. Zeugnis ablegen – das sollte sein Vermächtnis werden, sein Lebenssinn und das vermag seine Autobiografie auf anrührende Weise. Axel Holz

Buchdaten: Ulrich Rabe, „Der Uli, der ist ein Jude!“ – Autobiografie, Verlag Münstermann, Ibbenbüren 2015, 84 S., ISBN: 978-3-943084-21-4